Frühe Kindheit in Mohrungen

Frühe Kindheit in Mohrungen und die Flucht aus Ostpreußen 1945

1939 – 1945

vonHARTMUT KRAUSE

Oyten 2013
(überarbeitete Ausgabe von 2001)

Es war ein strahlend, heißer Sommertag im ostpreußischen Oberland, dieser Montag, der 21. August 1939 als ich durch Kaiserschnitt im Mohrunger Krankenhaus das Licht der Welt erblickte. Prof. Veitinger, der Leiter des Krankenhauses, verhalf mir so zu meinem Leben.
Meine Eltern Bruno Paul Krause und Charlotte (genannt Lore), geb. Lemke waren 1935 frisch verheiratet aus Königsberg/Pr. in Mohrungen zugezogen und bewohnten in der Veitstraße 3 eine schöne Dreieinhalb-Zimmerwohnung, rechts unten im Parterre.
Mein Vater, gebürtig aus Kreuzburg im Kreis Preußisch Eylau, hatte in Königsberg Germanistik, Geographie und Geschichte studiert und war – nach einer kurzen Zeit in Gerdauen – 1935 als Assessor an die Mohrunger Herderschule versetzt worden.
Am 15. April 1937 wurde er vom Mohrunger Bürgermeister zum Studienrat berufen. Seine Dienstbezüge betrugen nun 370,64 RM.
Meine Mutter, gebürtig aus Memel, war – als das Memelgebiet 1923 litauisch wurde und die Stadt nun Kleipeda hieß – mit ihren Eltern und Geschwistern nach Königsberg gezogen. Hier hatte sie bei Gräfe und Unzer Buchhändlerin gelernt. In Mohrungen ist sie aber nicht mehr berufstätig gewesen.
Die für meine Mutter schwere Geburt ihres ersten Sohnes mit einem Gewicht von fast 9 Pfund musste sie ohne meinen Vater erleben, denn dieser war bereits am 17. August mit unbekanntem Ziel zur Wehrmacht eingezogen worden. Erst am 27. August – wie ich seinem noch heute vorliegenden Kriegstagebuch entnehmen kann – erfuhr er von seinem Stammhalter.
Er lag in diesen Tagen mit seiner Einheit ganz in der Nähe von Mohrungen, nämlich in Freystadt an der Südgrenze von Ostpreußen. Nachdem der Angriffsbefehl auf Polen an seinem 39. Geburtstag, dem 24. August, wieder abgeblasen worden war, ging es dann doch am 1. September über die Grenze bei Lessen. Der Polenfeldzug, an dem mein Vater als Feldwebel der Reserve teilnahm, hatte begonnen.
In seinem Tagebuch erwähnt er den Finanzbeamten Uffz. Jek und den Sportlehrer Ltn. Weichsel, beide aus Mohrungen, die beide gleich am ersten Tage des Krieges in der Nähe von Lessen gefallen sind. Am 16. September fiel dann noch sein „Melder 3“, der Mohrunger Tischlermeister Alfred Ehrlich, und am 18.9.1939 der Geschäftsführer der Mühle Koy in Mohrungen, Leutnant Wegsel; beide bei Kämpfen vor Warschau bei Nowy-Dwor.
Mein Vater selbst wurde am 20. September leicht verwundet und kam ins Feldlazarett Nasielsk, von wo aus er dann bald nach Mohrungen entlassen wurde und erstmals mich, seinen Sohn, sah.
Bereits am 28.September 1939 fand dann in der Mohrunger „St. Peter und Paul Kirche“ meine Taufe statt. Es waren alle gekommen, die Großeltern Krause aus Kreuzburg und die Geschwister meines Vaters. Aber nicht nur ich stand im Mittelpunkt, sondern besonders der aus „dem Krieg“ heimgekehrte.
Mein Vater ließ es sich auch nicht nehmen – noch humpelnd und an Krücken – in der feldgrauen Uniform, nicht gereinigt, sondern so wie er sie ausgezogen hatte, an meiner Taufe teilzunehmen: „in dem Kleid der Ehre“, wie er es nannte.

Mohrungen war eine liebenswerte Kleinstadt im ostpreußischen Oberland mit Sitz der Kreisverwaltung und allen wichtigen Behörden und Schulen für die Region. Im Landkreis Mohrungen lebten damals 56300 Menschen – vorwiegend in den vielen kleinen Dörfern und auf verstreut liegenden Gütern – während die Stadt selbst nur ca. 7000 Einwohner hatte.
Bereits 1280 war hier im Rahmen der Christianisierung des baltischen Stammes der „Pruzzen“ durch den Deutschen Ritterorden eine Ordensburg gegründet worden. Aus einer dort bereits bestehenden „Lischke“ (Ansiedlung) in dem pruzzischen Gau „Pogesanien“ entwickelte sich im Laufe der Zeit der Ort durch Zuzug von Siedlern – überwiegend aus Thüringen – und erhielt 1327 das Stadtrecht.
Den zentralen Kern von Mohrungen bildete die Altstadt mit dem für ostdeutsche Städte typischen viereckigen Marktplatz und dem Rathaus aus dem 14. Jahrhundert in der Mitte. Etwas abseits lag die Backsteinkirche „Peter und Paul“, ebenfalls erbaut im 14. Jahrhundert. Geprägt war der Altstadtkern durch enge Gassen, die von einer nur noch an wenigen Stellen erhaltenen Stadtmauer umschlossen waren.
Im Laufe der Zeit hatte sich die Stadt nach Osten in Richtung Schertingsee und nach Norden in Richtung des Bahnhofs in lockerer Bebauung ausgedehnt. Hier in der Veitstraße in der Nähe des Bahnhofs wuchs ich nun heran.
Die Straße war geprägt durch mehrere Sechsfamilienhäuser, die alle dem Kreis gehörten und erst 1935 errichtet worden waren. Unsere Wohnung wurde erschlossen durch einen breiten Korridor, von dem alle Zimmer abgingen. Gleich vorne links das Badezimmer mit einem damals noch nicht überall üblichen Spülklosett und Badewanne mit Gasbadeofen. Der nächste Raum daneben war die Küche, ebenfalls mit Gasherd und einem zentral zu beheizendem Kohleofen für die Zentralheizung der ganzen Wohnung. Wiederum eine Tür weiter war das elterliche Schlafzimmer. All diese Räume hatten ihre Fenster nach hinten hinaus mit Ausblick auf eine große Rasenfläche, die zum Wäsche trocknen und bleichen genutzt wurde, sich aber auch bestens zum Spielen eignete.
Am Ende des langen Korridors lag das so genannte „halbe“ Zimmer, eine kleine Kammer, die ihr Fenster zur Giebelseite mit Ausblick auf das Haus Veitstraße 5 hatte. Dies war nun mein Kinderzimmer.
Die schönsten Räume der Wohnung lagen jedoch zur Straßenseite. Diese, zur Südseite gelegenen zwei Zimmer, waren mit einer Schiebetür verbunden. Eines war das sogenannte Herrenzimmer, möbliert mit einer breit ausladenden Club-Garnitur und einer von Wand zu Wand und bis unter die Decke ragenden Regalwand, vollgestopft mit Büchern. Der zweite Raum war das sogenannte Esszimmer mit einem großen Tisch in der Mitte.
Die zweite Parterre-Wohnung in unserem Haus bewohnte die Familie Roman Rosewicz (nach dem Krieg: Rosewitz), deren Sohn und Tochter Schüler meines Vaters waren, und die liebevoll auf mich aufpassten, wenn meine Eltern mal ausgingen.
Gleich darüber im ersten Stock wohnte die Familie Dreschhoff mit ihren Töchtern Ute und Karin, beide in meinem Alter und somit die ersten Spielgefährten.
Dann gab´s da noch den Peter Wollenweber im Haus Veitstraße 5 und schräg gegenüber die Familie Widdra mit der Tochter Doris sowie in der Adolf-Hitler-Straße die Langenbachs mit ihrem Sohn, der wie ich ebenfalls Hartmut hieß.

Anfang 1940 – als der Fuß meines Vaters ausgeheilt war – wurde er „UK gestellt“, das heißt, er wurde als „unabkömmlich“ eingestuft, so dass er zunächst nicht mehr Soldat sein musste, sondern wieder an der Herderschule unterrichten konnte.
Für meine Entwicklung war das natürlich von großem Vorteil. Sobald ich krabbeln, laufen, denken, sprechen konnte war mein Vater mein bester Freund. Wir lagen stundenlang auf dem Teppich und spielten mit allerlei Holzfahrzeugen und Bauklötzen – natürlich auch Krieg – denn dieser beherrschte nach wie vor die Gedankenwelt der Erwachsenen.
Oft, wenn ich mit meiner Mutter einkaufen war, und ich gerade beim Fleischer Fischer ein Stückchen Wurst – trotz Lebens-mittelkarten bekam meine Mutter, die „Frau Studienrat“, oft mal was extra zugesteckt – außer der Reihe bekommen hatte, gingen wir meinen Vater von der Herderschule abholen. In dem Torbogen an der Poststraße zu stehen und auf den Moment seines Erscheinens zu warten, war für mich immer eine große Freude.
Im Sommer ging`s dann oft an den Schertingsee zum Baden und zum Spielen und Buddeln an dem kleinen Sandstrand. Im Winter wurde der Schlitten zurechtgemacht und am Damm der großen Eisenbahnbrücke – der so genannten „Hohen Brücke“ wie man sagte – an der Georgenthaler Chaussée gerodelt. Der Vater war immer für mich da!
Für 5,40 RM jährlich pachteten meine Eltern zum 1.4.1941 „die Parzelle Nr. 36 auf dem, dem Kreis gehörenden früheren Teßmann`schen Sägewerksplatz“, wie es im Schreiben des Landrats hieß, „in der ungefähren Größe von 180 qm“. Hier wurden nun Kartoffeln, Mohrrüben, Buschbohnen und Tomaten angebaut – ein Grundbedürfnis meines Vaters, der ein großer Naturfreund war - aber auch eine willkommene Ernte in einer Zeit mit rationierten Lebensmitteln.
In der Mitte der Parzelle war eine kleine Ruhezone mit Rasen angelegt, auf der eine weiße Bank stand. Alle Fotos, die von Personen auf dieser Bank gemacht wurden, zeigen im Hintergrund immer den Mohrunger Bahnhof.
Meine Eltern hatten in Mohrungen einen großen Bekanntenkreis, der sich überwiegend aus dem – damals sehr jungen – Kollegium der Herderschule zusammensetzte. Besonders intensiv war die Freundschaft zu den Familien von Studiendirektor Dr. Grabo und zu den Studienräten Dr. Ahlert und von Riesen, die auch nicht weit von uns entfernt wohnten. Es wurde viel gefeiert und meine Mutter hat später einmal gesagt, dass es ihre schönsten Jahre damals in Mohrungen gewesen seien.
Gefeiert wurde auch, wenn die Ehemänner von meiner Mutters Schwestern, von denen eine in Königsberg und die andere in Elbing lebte, in der Nähe von Mohrungen waren und mal für einen Abend auf Besuch kamen. Meine Mutter hatte dann zwar immer Angst um ihre „Römer“, denn die waren gerade gut genug für die Schwager meines Vaters – die beide Soldat waren und später gefallen sind – und mit denen er sich so gut verstand. Meine Mutter verschwand an solchen Abenden lieber zur NS-Frauenschaft. Heimlich durfte ich dann etwas länger aufbleiben und auf den Knien von Onkel Willy Salitter „Hoppe-hoppe-Reiter“ spielen. Einmal sagte er: „Na, Jung`, was willst werden: Panzer oder Flieger“. . .
Auch veranstaltete mein Vater in Mohrungen oft Dichter-lesungen. Da er selbst sich in seiner Studienzeit mit den „Ostpreußischen Dichtern der Gegenwart“ sehr beschäftigt hatte, kannte er sie alle und lud sie dann – vor der Lesung – zu uns nach Hause zum Abendbrot ein. So waren bei uns Ernst Wiechert, Alfred Brust, Fritz Kudnig und Agnes Miegel zu Besuch. Es ist überliefert, dass Agnes Miegel, die wohl bekannteste aus der damaligen Zeit, mich auf ihren Knien gewiegt und mit mir ein wenig gespielt hat.In guter Erinnerung habe ich auch die Sommerferien, die wir stets bei meinen Großeltern in Kreuzburg verlebten. Wir fuhren mit der Eisenbahn bis Tharau, um dann in die Kleinbahn zu steigen und direkt am Kreuzburger Bahnhof mit viel Hallo abgeholt zu werden. Meine Mutter wurde im Haus ihrer Schwiegereltern immer wie eine eigene Tochter aufgenommen, denn sie selbst hatte keine Eltern mehr.
Mein Großvater Ernst Rudolf Krause war dort Konrektor an der Stadtschule und Organist an der dortigen Kirche. Die Großeltern bewohnten ein kleines Häuschen direkt neben der Kirche mit einem herrlichen Obstgarten. Auch das Spielen mit meinem Opa – der damals schon in Ruhestand war, aber dann wegen Lehrermangel doch wieder unterrichten musste – war immer ein Ereignis und das Pflücken der vielen roten Beeren ein besonders Vergnügen.
Leider war ich – ein wenig verwöhntes und behütetes Kind – auch oft krank. Am Schlimmsten hatte es mich wohl erwischt, als ich als zweijähriger wegen eines Augenfehlers nach Königsberg zum Augenarzt musste. Im Abteil 3. Klasse – für Reisende mit Traglasten, also auch für meine Mutter mit mir in der Kinderkarre – spielte ich in einem unbemerkten Augenblick mit einem Hund. Tage später litt ich an Krämpfen und musste mit Verdacht auf Hirnhautentzündung ins Mohrunger Krankenhaus eingeliefert werden.
Mit einer Rückenmark-Punktion half mir Professor Veitinger erfolgreich.

Diese unbeschwerten Kindheitsjahre gingen mit der erneuten Einberufung meines Vaters zur Wehrmacht Anfang 1943 erst einmal zu Ende. Allerdings wurde er ganz in der Nähe, in der Nachbarstadt Preußisch Holland eingesetzt. Er war dort als Ausbilder tätig. Hier besuchten meine Mutter und ich ihn oft an den Sonntagen, wenn er keinen ausdrücklichen Ausgang hatte. In dem überwiegend aus einfachen Baracken bestehenden Kasernengelände gab´s dann für mich immer Kakao und Kuchen. Auch nutzte mein Vater jede Freizeit, um zu uns nach Mohrungen zu kommen. Manchmal legte er die 25 km sogar zu Fuß zurück.
Auch das Leben in Mohrungen hatte sich irgendwie verändert. Fast alle Männer des Bekanntenkreises waren nun irgendwo militärisch eingesetzt. So beschränkte sich das Leben auf das Treffen der Frauen mit ihren Kindern untereinander. Für mich war das zunächst nicht so tragisch, denn meine Spiel-kameraden, die Mädchen Dreschhoff, der Hartmut Langenbach und der Wolfhard Grabo waren ja nicht weit und Spielzeug hatten wir ja auch genug.
Im täglichen Leben merkte man den Krieg in Ostpreußen zu dieser Zeit nicht so unmittelbar. Ab und zu war zwar das Brummen größerer Militärkolonnen von der nahen Preußisch-Holländer-Chaussée her zu hören, manchmal war auch ein Flugzeug-Geschwader mit ihrem durchdringenden Motoren-gedröhne über Mohrungen zu hören und zu sehen. Eine echte Bedrohung war es aber wohl kaum. Es wurde aber bereits damals strengstens auf die abendliche Verdunklung geachtet. Sobald diese nicht perfekt eingehalten wurde, klingelte ein Luftschutzwart an der Tür, um darauf hinzuweisen.
Auch die Versorgung mit Lebensmitteln und alles was man auf Lebensmittel-Karten bekam, funktionierte zu dieser Zeit noch zufriedenstellend. Heizmaterial und vor allem Kohlen wurden aber schon damals knapp. Wenn in dieser Zeit mal am nahen Bahnhof ein paar Waggons angekommen waren und beim Umladen auf Pferdewagen Bruchstücke von Briketts und Kohlenstaub daneben fielen, waren sofort Kinder da, die diese aufsammelten und in Körben nach Hause schleppten.
Bedrohlich klangen für mich allerdings die Meldungen aus dem Volksempfänger, der bei uns hoch oben auf den Sekretär stand, an dem mein Vater sonst immer arbeitete. Pflicht war es für jeden mindestens einmal täglich die mit Fanfarenstößen beginnende Sendung „Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt“ zu hören. Hier hörte man dann von den siegreichen Schlachten im Osten, aber weniger von dem Bombenkrieg auf deutsche Großstädte im Westen.

Im Sommer 1943 kam dann unvermittelt die zweitälteste Schwester meiner Mutter, Magdalene Soetje, mit ihren drei Söhnen zu uns nach Mohrungen. Sie hatte bereits 1933 nach Hamburg geheiratet und war nun nach dem schweren Bombenangriff auf die Hansestadt obdachlos, denn ihre Wohnung war vollständig ausgebombt worden. Sie hatte mit ihren Söhnen in einem Gemeinschaftsbunker überlebt und war dann – wohin sollte sie auch – zu ihrer jüngsten Schwester nach Mohrungen gefahren, denn die hatte ja wohl den meisten Platz. Einen Teil ihrer Möbel – wie sich später heraus stellte – hatten Luftschutzhelfer aus dem ausgebrannten Wohnblock gerettet. Die Möbel standen tagelang im Regen in Hamburg-Barmbeck auf der Straße, konnten später dann aber doch irgendwo eingelagert werden und nach dem Kriege erhielt sie sie sogar zurück.
Mit der Ruhe und dem geordneten Leben in unserer relativ großen Wohnung in der Veitstraße war es nun für meine Mutter und mich erstmal vorbei. Wir mussten zusammenrücken und das Leben anders organisieren. Das war nicht ganz einfach, musste doch nun für sechs Menschen ein gewisser Freiraum erhalten bleiben.
Meine drei Vettern – alle älter als ich – benahmen sich mir gegenüber dann auch gleich entsprechend „forsch“! Als Großstadtkinder mit wenig Spielzeug aufgewachsen und gewohnt viel auf der Straße zu spielen, wurden nun meine Sachen erst einmal inspiziert und auseinander genommen. Das war ich natürlich nicht gewohnt, und das Geschrei darüber beschränkte sich nicht nur auf uns Kinder.
Meine Mutter setzte alle Hebel in Bewegung, um im Rathaus und bei der Kreisverwaltung eine Änderung der Situation herbei zu führen. Und das gelang sogar, als ob noch Frieden wäre: Meine Tante und meine Vettern wurden ganz offiziell nach Thüringen ins Vogtland evakuiert.

Ende März 1944 erreichte uns ein Telegramm aus Preußisch Holland von meinem Vater, dass seine Einheit nun an die Front müsse, und dass der Transport über Mohrungen – und zwar noch am selben Tag – ginge.
Eilig zogen wir uns an, um sofort zum Bahnhof zu laufen. Auf dem hinteren Bahnsteig standen schon einige Leute, die wohl eine ähnliche Nachricht erhalten hatten. Endlich lief dann ein endlos langer Güterzug ein und in den offenen Türen und auf den Trittbrettern hingen die Soldaten wie Trauben. Lachend sprangen einige noch bevor der Zug endgültig hielt ab und begrüßten in bester Laune ihre Angehörigen. Natürlich hatten wir meinen Vater auch sofort in einem der vorderen Waggons gesehen und liefen eilig dort hin, um ihm in die Arme zu nehmen.
Der Aufenthalt war nur kurz. Unvermittelt setzte sich der Zug dann in Bewegung. Schnell – ohne viele Abschiedsworte – sprangen die Soldaten auf den anfahrenden Zug wieder auf. Mein Vater wurde von einigen Kameraden in den Waggon gezogen. Alles winkte und rief sich noch etwas zu. Und plötzlich erschallte wie auf Kommando aus allen Wagen gleichzeitig das Lied „Hoch auf dem gelben Wagen sitz‘ ich beim Schwager vorn“. –
Ein Lied, das mir noch heute Schauer über den Rücken laufen lässt. –

Die Nachricht kam am 6. Juni 1944, obwohl der Kampfeinsatz bereits am 10. April gewesen war. Aber solange dauerte die Feldpost damals vom fernen Bessarabien bis nach Mohrungen. Der Ortsgruppenleiter der NSDAP-Mohrungen schrieb an meine Mutter:
„Ich erhielt die traurige Mitteilung, daß Ihr Gatte von seinem letzten Einsatz nicht zurückgekehrt ist und daher als vermißt gemeldet wird. Ich spreche Ihnen zu dieser Mitteilung das aufrichtige Mitgefühl der Partei und des deutschen Volkes aus. Wir alle hoffen, daß der Verlust Ihres Gatten nicht ein endgültiger sein möge.“
Auch die Stadtverwaltung schrieb:
„.. .daß Ihr Gatte im Osteinsatz vermißt worden ist.....; ich bedaure aufrichtig......; obwohl eine große Ungewißheit für Sie besteht, können Umstände vorliegen, daß Ihr Mann lebt und nach Beendigung des Krieges zurückkehren kann.“
An diesen Satz hat sich meine Mutter viele Jahre geklammert und hat, obwohl von allen Verwandten und Bekannten Beileidsbekundungen eingingen: „sei stark und hoffe“, immer geglaubt, mein Vater sei ja „nur“ vermisst und er wird sich durchschlagen und zurückkehren. Diese Hoffnung übertrug sich auch sehr stark auf mich.
Schon im Laufe des Jahres 1944 begann meine Mutter sich an die Auskunftsstelle der Wehrmacht zu wenden. Es folgte eine jahrelange Schreiberei, die sich später mit dem Suchdienst des Roten Kreuzes fortsetzte und sich bis 1972 hinziehen sollte!

Nun hatte sich unser Leben grundlegend verändert. Meine Mutter und ich waren in diesem Kriegsjahr viel allein. Die Einladungen in den Kollegenkreis der Herderschule blieben aus, die bevorzugte Bedienung beim Fleischer Fischer gab´s nicht mehr, und die Arbeit im Garten musste allein bewältigt werden.
Doch was den Garten betraf, hatten wir im Herbst dann doch Hilfe. Auf Fürsprache unseres Nachbarn Rosewicz, der bei der Kreisverwaltung arbeitete, wurden uns zwei französische Kriegsgefangene geschickt, die den Garten umgruben und die schwersten Arbeiten erledigten. Sie wurden dann noch ein zweites Mal zu uns abkommandiert, um den Keller aufzuräumen: Kohlen in den Verschlag zu schippen und Briketts aufzustapeln. Meine Mutter bot ihnen in unserer Küche eine kräftige Suppe zur Mittagszeit an, doch das wurde von der Parteileitung umgehend gerügt: Feinde nimmt man nicht zu sich in die Wohnung!
Unvermittelt und unerwartet bekam ich in dieser Zeit – es muss so im August um meinen 5. Geburtstag gewesen sein – ein wertvolles Geschenk. Zwei fremde Männer – wohl von der Parteileitung – übergaben mir ein detailgetreu gefertigtes Pferdefuhrwerk mit zwei Pferden und einem Wagen mit flacher Landfläche, die über die Räder ragte, beladen mit kleinen Kisten und Fässern. Es war eine Nachbildung der damaligen Roll-Speditionen, die Stückgut vom Bahnhof abholten und an die Empfänger in der Stadt verteilten. Mein Freund Wolfhard Grabo sollte auch so ein Spielzeug bekommen, aber er heulte, schmiss sich auf den Boden – wie seine Mutter erzählte – so eine „Kutsche“ wolle er nicht haben, sondern ein großes Militärauto! – Auch das war möglich zu besorgen! –
Erst später haben wir erfahren, dass dieses Anfertigungen von Kriegsgefangenen waren, die zur „Buße“, dass der „Feind“ uns die Väter genommen hatte, diese Sachen herstellen mussten.
Im Oktober 1944, als die Russen schon vor Tilsit standen und alle über die Gräueltaten von Nemmersdorf im östlichen Grenzgebiet sprachen, kamen die ersten Flüchtlinge nach Mohrungen. Ausgerechnet meine Mutter hatte man ausersehen, eine Frau Kunz mit ihren drei Kindern, das jüngste noch im Babyalter, in unserer Wohnung aufzunehmen. Nun wurde das Schlafzimmer ins Esszimmer umgestellt und der große Esszimmertisch kam ans Fußende der Ehebetten. Hier durfte ich nun auch schlafen, denn mein kleines Zimmer wurde auch gebraucht. Mit Hilfe der NS-Frauenschaft wurden ein paar Möbel besorgt, mein Kinderbett wurde für das Baby reaktiviert und unsere weiße Gartenbank diente – mit ein paar Decken belegt – als Sofa für die neuen Mitbewohner.
Auch die Küche musste natürlich nun von zwei Familien benutzt werden, was den Ordnungssinn und das planvolle Handeln meiner Mutter natürlich zuwider lief. Doch ein gewisses Improvisationstalent hatte man sich mittlerweile angeeignet; es war ja schließlich Krieg!
Dann wurde Frau Kunz auch noch krank und musste an der Galle operiert werden. Zum Wirtschaften für ihre Kinder wurde daraufhin ein Pflichtjahrmädchen geschickt, welches sich dauernd wegen seiner Läuse kratzte und mit den drei Kindern völlig überfordert war.
Ich hatte mit dem ältesten Sohn von Frau Kunz, der 7 Jahre alt war, zwar einen neuen Spielkameraden, mit dem ich auch viel herum tollte, doch irgendwie war die Stimmung überall bedrückt. Dies verstärkte sich noch, als immer mehr Militär in Mohrungen sichtbar wurde. Bei uns hinter dem Haus auf der schönen Bleichwiese wurden mehrere Meter tiefe Gräben ausgehoben und das Erdreich in Lastwagen weggefahren, um – angeblich – den Ostwall zu bauen.
Auch unsere Bekannten wurden immer unruhiger. Frau Langenbach, die ihr zweites Kind erwartete, wollte nicht länger in Mohrungen bleiben. Sie ging nach Belgard in Pommern, wo ihre Tante lebte. Sie bot uns an, wenn es in Ostpreußen „los ginge“ dort hinzukommen. Auch überredete sie meine Mutter eine große Kiste mit Wertsachen wie Bettwäsche, Tischtüchern, Kleidung und gutem Geschirr dort hin zu schicken, was meine Mutter dann auch tat.
Auch Dreschhoffs verließen Mohrungen. Anneliese Dreschhoff mit ihren beiden Töchtern Ute und Karin gingen nach Kose, einem Rittergut in der Nähe von Stolp in Pommern, welches ihrem Vetter, einem Herrn Klatt gehörte. Verabschieden tat sie sich ebenfalls mit den Worten, dass wir gegebenenfalls dort hinkommen könnten.
Meiner Mutter war das alles unheimlich, aber wo sollte sie wirklich hin, wo wir doch keine Verwandten im „Reich“ hatten?!
Nun machten sich auch meine Großeltern in Kreuzburg Sorgen und schrieben: „Wenn es brenzlich wird, komm mit dem Jungen zu uns nach Kreuzburg, wir gehen dann gemeinsam weg.“ Und wenig später: „Wenn das nicht klappen sollte, treffen wir uns alle in Bernburg an der Saale.“ Dort wohnte nämlich der älteste Bruder meines Großvaters.

Im November 1944 hatten wir dann noch eine weitere Einquartierung in unserer Wohnung. Wegen der kritischen militärischen Lage im Osten von Ostpreußen wurde das Reservelazarett Gumbinnen nach Mohrungen – in die Aula der Herderschule(!) – verlegt. Drei Krankenschwestern dieses Lazarettes sollten nun ausgerechnet auch noch bei uns wohnen.
In der Herderschule war zu der Zeit ein geregelter Schulbetrieb sowieso nicht mehr möglich. Fast alle Lehrer waren irgendwo Soldat. Auch gab es praktisch keine Oberstufe mehr, denn die Jungen dieser Jahrgänge waren jetzt auch schon zum Bau des „Ostwalls“ in den Militärdienst eingezogen worden.
Bei uns in der Veitstraße wurde nun mein kleines Zimmer, welches ja eigentlich nur eine Kammer war, für die drei Krankenschwestern hergerichtet. Es wurde ein Etagenbett besorgt und eine Liege hineingestellt Der Raum war so voll, dass man kaum noch treten konnte. Nun bewohnten wir unsere Dreieinhalb-Zimmerwohnung mit insgesamt neun Personen. Aber die Krankenschwestern waren sehr rücksichtsvoll und brauchten ja quasi auch nur einen Schlafplatz nach dem langen Dienst im Lazarett, welches mit bis zu 200 verwundeten Soldaten belegt war.

Bedrückende Stille lag dann Weihnachten 1944 über der Stadt. Alles war verdunkelt, die Straßen menschenleer, man zog sich in seine vier Wände zurück.
Für mich waren es die ersten Weihnachten ohne den Vater. Meine Mutter und ich saßen vor dem kleinen Weihnachtsbaum – Kerzen hatte sie noch auftreiben können – und ich spielte für mich alleine mit dem Pferdegespann und den Kisten und Fässern der sehr schön gefertigten Bahnhofs-Rollspedition.
In der Kammer nebenan saßen die drei Krankenschwestern still auf ihren Betten, eine einzige Kerze vor sich auf dem Fußboden.
Die Familie Kunz in unserem ehemaligen Schlafzimmer war schon um 8 Uhr vor lauter Einsamkeit ins Bett gegangen. Auch ging es Frau Kunz nach der Operation immer noch nicht gut.

Es war Sonntag, der 21. Januar 1945, so ungefähr gegen 17 Uhr – es war jedenfalls schon dunkel – als im ganzen Haus gleichzeitig Sturm geklingelt wurde. Kurz darauf rief eine Männerstimme dröhnend durch das ganze Treppenhaus: „Räumungsbefehl“!
Die Frontlinien hatten Ende 1944 noch an der Narew in Polen und im Osten von Ostpreußen bei Goldap gelegen.
Am 14. Januar 1945 setzte Frostwetter ein und es gelang den Russen ab dem 17. Januar in einer Großoffensive über die zahlreichen zugefrorenen Flüsse, Seen und Sümpfe ein ungeahnt schneller Vormarsch bis tief nach Ostpreußen hinein. Eine Angriffsrichtung richtete sich von Osten her auf Königsberg zu, eine zweite sollte von Süden einen Keil bis zur Ostsee bei Elbing treiben und somit Ostpreußen einkesseln.
Bereits am 20. Januar war Neidenburg im Süden erreicht und am 21. Januar eroberten die Russen schon die Nachbar-Stadt Osterode/Ostpreußen, nur 25 km von Mohrungen entfernt.

Unser Nachbar, der Kreisbaumeister Hermann Wollenweber aus der Veitstraße 5 – ich bin heute sicher, dass wir durch ihn so früh von dem „Räumungsbefehl“ erfahren haben – berichtete später über die Situation in Mohrungen an diesem Abend:
„Gegen 16 Uhr gab die NSV (Nationalsozialistische Volks-wohlfahrt) bekannt, dass an eine Räumung Mohrungens noch nicht zu denken sei; erst käme Osterode/Ostpr. dran. Zur gleichen Zeit gab der Kreisleiter aber schon den Räumungsbefehl an die Gemeinden telefonisch durch. Nachdem ich diese Neuigkeit erfahren hatte, sagte ich meiner Familie Bescheid, dass sie auf Biegen und Brechen versuchen sollte, mit der Bahn wegzukommen. Ich selbst ging mit Hanna – meiner Tochter – zur Bahn, um Fuhrmöglichkeiten zu erkunden. Zufällig kam gerade ein leerer Zug. Die Lokomotive wurde abgekoppelt und die Parole ausgegeben, dass der Zug später wieder nach Allenstein zurückfahren würde. Wenn aber Gerüchte stimmten, dass die Russen schon in Allenstein waren, so viel Irrsinn schien mir jedenfalls nicht möglich, dass man ihnen entgegen fahren würde. Ich ließ daher durch Hanna zu Hause Bescheid geben, dass man sofort packen und kommen sollte, eher auch andere auf die Idee kämen, den Zug zu besteigen. Die Wartezeit bis zum Kommen zog sich scheinbar stundenlang hin. Gegen 18 Uhr kam Anita mit den Kindern, Schwägerin Ida mit Karin und Frl. Dr. Franke endlich an und bezogen mit Gepäck das von mir mühsam freigehaltene Abteil. Es wurde höchste Zeit, denn nun wurde der Zug fast gestürmt. Nachdem alle Platz gefunden hatten, ging ich auf den Bahnsteig, um aufzupassen, ob die Lokomotive nicht doch in der Allensteiner Richtung angekoppelt würde. Als sich nichts rührte, suchte ich das Stationsgebäude auf, um dort etwas zu erfahren. Hier herrschte schon völlige Ratlosigkeit. Eine Telefonistin versuchte unter Heulen vergeblich, Anschluss mit Allenstein zu bekommen. Kein Mensch wusste, was geschehen sollte. Endlich ging ich zum Bahnsteig zurück, fand aber den von mir besetzten Zug leer und einen am Nachbargleis stehenden Güterzug voller Menschen. Natürlich vermutete ich, dass auch meine Angehörigen umgestiegen wären, konnte sie aber trotz meines Rufens nicht mehr finden.“

Meine Mutter hatte den ganzen Sonntag über an einem Rucksack aus Leinenstoff genäht und war gerade zu Frau Kahrer in den 2. Stock gegangen, um einen Knopflochbohrer zu holen. „Lassen Sie sein, Frau Kahrer“, sagte sie, „ich mache den Rucksack mit Sicherheitsnadeln zu.“ Eilig wurde er nun noch vollgepackt. Zwei Koffer, eingenäht in Luftschutz-vorhänge, standen schon seit Tagen gepackt bereit. Auch für mich war ein kleiner Rucksack gepackt, sowie zwei Einkaufstaschen, die ich zu tragen hatte.
„Ich lege noch schnell eine frische Tischdecke auf“, sagte meine Mutter völlig unsinnig. „Wir sollten noch einen Kalender und eine Uhr mitnehmen“, sagte ich in der allgemeinen Aufregung.
Meine Mutter zog zwei Mäntel übereinander und ich selbst musste lange Strümpfe und zwei Skihosen, Pullover und einen langen Mantel nebst dicker Wollmütze anziehen. Um den Hals bekam ich einen an einem dicken Bindfaden hängenden Paketanhänger, der mit meinem Namen, Geburtsdatum , den Namen der Eltern und der Adresse, Mohrungen, Veitstraße 3, versehen war. Dies war so propagiert worden und eine sinnreiche Idee, denn die Gefahr, von den Eltern getrennt zu werden und durch Schock alles zu vergessen, war bei Kindern besonders groß.
So traten wir mit unserem schweren Gepäck, gefolgt von Frau Kunz mit ihren drei Kindern und unterstützt von Herrn Rosewicz – dessen Familie auch schon vorher weggegangen war – und den drei Krankenschwestern, auf die tief verschneite Straße. Es war eisig kalt, mindestens minus 18 Grad.
In der Veitstraße und der Straße zum Bahnhof drängten sich die Menschen. Viele kamen aus dem Raum Osterode/ Ostpreußen in der Hoffnung, von hier aus weg zu kommen.
Mittlerweile waren Militär-Lastwagen aufgefahren. Aufgeregte Männer mit Armbinden gaben das Kommando und verwehrten jedem, der nicht überprüft war, das Aufsteigen. „Nur für Frauen mit drei und mehr Kindern“, lautete die Parole, „wir bringen sie zur Küste zu einem Schiff!“
Hier kamen meine Mutter und ich nicht mit, das war klar! „Und auf ein Schiff gehe ich unter keinen Umständen“, sagte meine Mutter mutig.
Also was tun?Ob wohl noch ein Zug fährt? Kurz entschlossen ließ mich meine Mutter bei Herrn Rosewicz stehen und lief zum Bahnhof. Hier war kein Schalter mehr besetzt, kein Bahnhofsvorsteher mehr zu sehen. Doch auf einem der hinteren Gleise stand ein Güterzug mit offenen Pritschenwagen, eher zum Transportieren von Militärfahrzeugen gedacht, aber mit einer dampfenden Lokomotive davor.
Eilig kehrte sie zurück, um mich und unser Gepäck zu holen. Herr Rosewicz hatte mittlerweile sowohl unser Gepäck als auch das von der Familie Kunz auf zwei Handschlitten gepackt und so zogen Kunz` und wir zum Bahnhof.
Herr Rosewicz war dienstverpflichtet und durfte nicht weg.
Der Sohn von Frau Kunz half meiner Mutter und mir auf einen der Güterwagen.
Frau Kunz verließ aber plötzlich der Mut. Sie – immer noch geschwächt von der Operation – hatte Angst, dass sie und das Baby die Fahrt bei dem strengen Frost auf den offenen Loren nicht überstehen würden. Sie ging mit ihren Kindern wieder zurück in unsere Wohnung – und ergab sich so – fast – einem schrecklichen Schicksal!

Erst Jahre später habe ich erfahren, dass sie am Montag, 22. Januar, mit einem anderen Güterzug, der in Mohrungen „Volkssturm“ ausgeladen hatte, doch noch raus gekommen ist.
Herr Rosewicz ist ebenfalls am Montag, dem 22. Januar, gegen Mittag – als der Russe schon von Süden her in die Stadt eindrang – zu Fuß in Richtung Preußisch Holland aufge-brochen. Er erzählte später, dass die drei Krankenschwestern noch am Sonntag, als wir gerade abgefahren waren, einige deutsche Soldaten in unsere Wohnung eingeladen und mit ihnen und den von uns zurückgelassenen Weinvorräten eine zünftige Feier bis zum frühen Morgen veranstaltet hätten.
Auch die Krankenschwestern und das Reservelazarett aus der Aula der Herderschule mit den verwundeten Soldaten konnte noch am Montag – von einem extra von Elbing zurück nach Mohrungen beorderten Militärzug – evakuiert werden. Dieser Lazarettzug verließ Mohrungen gegen 18 Uhr.
Bei der kleinen Bahnstation Grünhagen, ca. 20 km westlich von Mohrungen, wurde dieser Lazarettzug gegen 2 Uhr nachts in ein Unglück verwickelt. Wegen der unklaren militärischen Lage fuhren alle Züge ohne Licht und ein weiterer Flüchtlingszug fuhr aus Unachtsamkeit auf diesen Zug auf. Die verunglückten Züge und die hier festsitzenden Flüchtlinge wurden hier am Dienstag früh, am 23. Januar, von russischen Panzerspitzen erreicht und unter Beschuss genommen. Es gab viele Tote und Verletzte.
Seit 2009 erinnert eine Gedenktafel in Grünhagen an dieses Massaker.

Meine Mutter baute aus unseren Koffern, den Taschen und Rucksäcken eine kleine „Burg“, in die wir uns eng aneinander kauerten, um uns wenigstens einigermaßen vor der Kälte zu schützen. Bis Marienburg sei es ja nicht weit, das würden wir schon überstehen, meinte sie etwas leichtsinnig.
Mittlerweile drängten sich immer mehr Menschen auf dem Bahnhof und stürmten fast den Zug. Es hatte sich wohl doch herum gesprochen, dass noch Züge fahren würden.
Es dauerte aber noch Stunden bis die vielen Menschen sich dicht gedrängt ein Eckchen auf einem der Waggons ergattert hatten. Und es gab Streit, wer den Vorzug in den wenigen mitgeführten geschlossenen Güterwagen bekommen sollte. Wieder Männer mit Armbinden bestimmten, dass hier nur Schwangere, Frauen mit Säuglingen und alte und gebrechliche Leute einsteigen durften.
Endlich – es muss bereits nach 21 Uhr gewesen sein – setzte sich der Zug in Bewegung. Dichter Qualm und Ruß von der Lokomotive hüllten uns ein. Der viele Schnee zwischen den Schienen und die nicht frei gelegten Weichen machten ein zügiges Fortkommen zusätzlich unmöglich. Nach bereits ca. 10 km, in der Nähe von Maldeuten, blieben wir zum ersten Mal in einer Schneewehe stecken. Es dauerte endlos bis Freiwillige die Lok wieder frei geschaufelt hatten.
Diese Situation wiederholte sich die ganze Nacht über. Mal waren die Weichen vereist, dann waren wegen der bereits verlassenen Bahnhöfe die Signale nicht mehr zu stellen, oder die Lokomotive hatte keinen Dampf mehr und der Heizer musste Schnee nachschippen.
Immer bei solchen Halten auf freier Strecke gingen die Türen der geschlossenen Waggons auf, und es wurden Menschen heraus getragen. Meistens waren es erfrorene Säuglinge oder alte Menschen. Sie alle wurden in aller Eile im Schnee am Bahndamm verscharrt.
Meine Mutter sagte nur immer zu mir: „Junge, schlafe nicht ein, Du erfrierst mir noch.“ Immer, wenn ich kurz vorm Einschafen war, musste ich aufstehen und meine Füße bewegen. Trotzdem habe ich mir in dieser Nacht ein halbes Dutzend Zehen angefroren.
Die Kälte und die Hilflosigkeit veranlasste auch einige Leute bei den vielen Halten neben dem Zug Feuer zu machen, um sich wenigstens für kurze Zeit etwas zu wärmen. Das ging soweit, dass einige anfingen die Seitenbretter der Waggons abzureißen, um sie als Brennmaterial zu nutzen. Sobald aber ein Feuer zu lodern begann, wurde sofort gerufen: „Feuer aus, wollt ihr die Flieger anlocken!“ – Niemand wusste, wie weit der Russe schon vorgedrungen war, und ob wir nicht plötzlich unter Beschuss geraten würden.
Es waren mindestens 12 Stunden vergangen, und es wurde langsam hell, als der Zug am nächsten Morgen in dem von Mohrungen in westlicher Richtung liegenden und nur 60 km entfernten Marienburg ankam.

Marienburg war der Grenzbahnhof und einzige Bahnübergang über Nogat und Weichsel von Ostpreußen in das Gebiet des ehemaligen Freistaates Danzig und dann weiter über Dirschau in der Kaschubei ins übrige Deutschland.
Zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg musste man für die Durchfahrt noch einen besonderen Ausweis haben, und die Abteile wurden von außen abgeschlossen und die Fenstervorhänge zugezogen. Dies war natürlich durch die Besetzung Polens längst vorbei.

Auf den Bahnsteigen in Marienburg wimmelte es nur so von Menschen. Es war nirgends ein Durchkommen vor lauter Gepäck, Kinderwagen und sonstigem Hab und Gut. Alles war aufgeregt und lief durcheinander. Alte Leute saßen erschöpft auf ihren Bündeln und Kinder, mit einer Hand irgendwo abstützend, schliefen im Stehen.
Plötzlich sahen wir in dem Gedränge Frau Kahrer. Sie schleppte zwei Koffer und in ihrem Rucksack saß ihr Hund, ein weißer Spitz, der oben ängstlich herausschaute. Aber sofort hatten wir sie wieder aus den Augen verloren. Von ihr haben wir nie wieder etwas gehört.
Auch trafen wir in dem Gedränge Frau Wollenweber mit ihren Kindern Hanna und Peter aus dem Haus Veitstraße 5, die im selben Zug gesessen hatten. Frau Anita Wollenweber hat später die Zustände an diesem Vormittag in Marienburg in einem Aufsatz geschildert:
„Beim Aussteigen entdeckten wir eine ganze Reihe von Bekannten: Frau Boumann, Schmischke, Krause u. a. Mit Schrecken hören wir, daß im Zug auch offenen Loren gewesen sind, auf dem die armen Menschen teilweise sogar mit Kleinkindern durch die kalte Winternacht gefahren waren. –
Auf dem Bahnsteig wimmelte es von Menschen, die auf irgendeinen Zug nach dem Reich warten. Es fahren auch dauernd Züge ein und wieder weiter, aber alle sind schon brechend voll, so daß wir stundenlang vergeblich auf den vereisten und verschneiten Bahngleisen und Bahnsteigen herum laufen, immer in dem scheußlichen Gefühl, hoffentlich kommt kein Flieger, oder wann werden wir wohl hier heraus kommen? Die Menschen sind teils aufgeregt, teils gleichgültig. Manche haben ganz unmögliches Gepäck mit: Kasten mit elektrischen Platten, große Käfige mit Hühnern u. dgl. Wo sie das bei diesem Gedränge im Zuge unterbringen wollen, ist schleierhaft. Im und am Güterbahnhof lagern ganze Berge von Gepäck, Kartons, Säcken usw. Es ist ganz aussichtslos, dass diese Sachen noch nach dem Westen befördert werden, dafür wird es eine willkommene Beute für die Russen sein.“

Niemand wusste wie es weiter gehen sollte. Auch hier gab es keine oder nur eine unzureichende Organisation, was in dieser Situation wohl auch kein Wunder war.
Irgendwelche Durchsagen und wohl auch die Kälte und Übernächtigung veranlassten immer mehr Leute den Bahnsteig, auf dem wir angekommen waren, zu verlassen. Vielleicht hofften einige, im Wartesaal etwas Heißes zu trinken zu bekommen oder eine halbwegs verbindliche Auskunft.
So standen wir stundenlang auf dem Bahnhof herum.
Gegen Mittag lief unvermittelt ein Zug ein, der völlig überfüllt war. Plötzlich war wieder großes Gedränge auf dem Bahnsteig. Jeder versuchte sich noch irgendwie hinein zu quetschen. Meine Mutter und ich versuchten es in einem der vorderen Wagen, aber es war unmöglich. Wir wurden mit unserem Gepäck immer wieder abgedrängt und drohten uns aus den Augen zu verlieren.
Verzweifelt schaute meine Mutter mehr zufällig zur Lokomotive hinüber. Dies sah wohl auch wieder eher zufällig der Lokomotiv-Führer. Plötzlich und unvermittelt kletterte er von seinem Stand herunter, packte mich samt Gepäck unter die Arme und hob mich zu seinem Heizer empor auf den Führerstand. Dann warf er die Koffer hinauf, die sofort auf den Kohlen im Tender landeten und half meiner Mutter beim Hochklettern.
Der Lok-Führer bot meiner nun schon völlig erschöpften Mutter seinen Klappsitz an und aus seiner Thermosflasche heißen Kaffee. Der Heizer machte die Feuerungs-Öffnung auf und hätte mich, der nun tatsächlich schon halb erfroren war, am liebsten „zum Auftauen“ hineingesteckt.
Und es ging dann auch tatsächlich los!
Wir fuhren über die große Eisenbahnbrücke, die die Nogat – einen Seitearm der Weichsel – überspannte. Noch nie zuvor hatte ich einen so großen Fluss und an seinem Ufer eine so mächtige Ritterburg gesehen: die mittelalterliche Marienburg, die größte Burg Europas.
Ostpreußen lag nun hinter uns, und ich habe später, als ich das erste Mal wieder in Ostpreußen war, ganz für mich alleine, diese Brücke „die Brücke ohne Wiederkehr“ genannt.

Ob es Dirschau war oder ein anderer Ort in der Kaschubei, weiß ich nicht mehr, jedenfalls mussten nach nicht all zu langer Fahrt alle den Zug verlassen, da er leer wieder zurück gehen sollte. Ob das in dem allgemeinen Chaos wirklich durchgeführt wurde ist zweifelhaft, denn es wurde schon heftig über das Sprengen der Weichselbrücken gemunkelt.
Hier versorgte man uns im Bahnhofsgebäude mit heißen Getränken und überließ uns unserem Schicksal.Es war schon wieder Abend geworden und stockdunkel, als meine Mutter, von innerer Unruhe getrieben, zum wiederholten Male nach draußen ging und zufällig auf einem der hinteren Gleise einen Zug unter Dampf sah.
Hier sind wir aufs Geratewohl eingestiegen ohne zu wissen, wohin er fahren würde. Von dieser Fahrt weiß ich nicht mehr viel. Vor lauter Übermüdung, Hunger und schmerzenden Füßen wegen meiner angefrorenen und nun geschwollenen Zehen bin ich dann wohl eingeschlafen.
So kamen wir zufällig bis Stolp in Pommern.
In Stolp lief das Leben noch einigermaßen normal. Jedenfalls bekamen wir etwas zu essen und meine Mutter besann sich, dass Anneliese Dreschhoff ja in der Nähe bei Ihrem Vetter auf dem Gut Kose war. Sie ging ganz fest von dem Gedanken aus, dass es ja auch bald wieder zurückgehen würde, denn – so die offizielle politische Meinung – wenn der Russe in Ostpreußen eindringen würde, dann nur für kurze Zeit. Somit würden wir ja auch nur ein paar Tage in Kose bleiben müssen.
Wir kauften ganz regulär Fahrkarten und fuhren mit einem Bummelzug die 30 km bis zur Bahnstation Pottangow.
Der Bahnvorsteher in seinem kleinen Bahnhof, der nur aus einem Dienstraum und einem kleinen Warteraum bestand, war sehr überrascht, als dem Zug meine Mutter und ich als einzige Fahrgäste entstiegen. Etwas unwillig rief er von seinem Diensttelefon aus das Gut Kose an.
Wieder warteten wir Stunden in dem kleinen Warteraum und es war schon wieder dunkel geworden, als plötzlich eine Gestalt in dickem Pelzmantel, die Kapuze weit ins Gesicht gezogen und in schweren Filzstiefeln vor uns stand. Es war Anneliese Dreschhoff! Und vor dem Bahnhof stand ein großer Pferdeschlitten mit Kutscher.
So erreichten wir, in dicke Decken gewickelt, das ca. 10 km von der Bahnstation entfernte Kose.

Das Gutshaus in Kose war ein großes Herrenhaus mit riesiger Eingangshalle, von der die Wohnräume abgingen. In den ersten Stock führte eine breite Treppe und wiederum von einer umlaufenden Galerie gingen die Schlafräume ab. Obwohl es in meiner Vorstellung eine Unmenge Zimmer geben musste, war das Haus doch bereits durch allerhand Verwandte von Herrn Klatt, dem Gutsbesitzer, mehr als überbelegt.
Aber hier wurden wir erst einmal aufgenommen und konnten uns etwas erholen, wenn auch meine Mutter und ich in einem Bett schlafen mussten.
Herr Klatt hatte für sich und seine Familie und das ganze zu dem Gut gehörende Dorf bereits einen Treck vorbereitet. So standen auf dem Hof vor den ausgedehnten Stallgebäuden in Reih und Glied die mit Lebensmitteln, Betten, Hausrat und Pferdefutter beladene Ackerwagen – teilweise mit Planen überspannt – bereit für den großen Aufbruch. Jede Familie hatte ihren eigenen Wagen, die Pferde waren genau eingeteilt und alles bis ins Kleinste geplant. Für seine eigene Familie hatte er eigens einen Wohnwagen erstanden. Täglich wartete er auf den Treckbefehl der Kreisverwaltung, aber der kam nicht.
Nach fünf Tagen – die Sorgen von Herrn Klatt wurden immer größer, und die Unruhe in Kose wuchs durch die Ungewissheit – bat meine Mutter ihn, uns zur Bahnstation zurückzubringen. Es war klar, in dem Treck hätten wir nicht auch noch mitgenommen werden können.
Herr Klatt schien erleichtert, nun nicht weiter auch noch für eine ihm unbekannte Frau und ihren Sohn die Verantwortung übernehmen zu müssen. In aller Herrgottsfrühe – es war eher noch Nacht - stellte er uns wieder den Pferdeschlitten nebst Kutscher zur Verfügung, der uns wieder zur Bahnstation nach Pottangow brachte.
So fuhren wir wieder ganz regulär mit der Bahn in das 100 km westlicher liegende Belgard in Pommern zu der anderen Freundin meiner Mutter, Lotte Langenbach.
Der Treckbefehl für Kose – oder besser die Treckgenehmigung – kam, aber sie kam zu spät!
Anneliese Dreschhoff schrieb im September 1945:
„Als wir durch Belgard fuhren habe ich besonders stark an Sie und Frau Langenbach gedacht. Bewundern tue ich Ihren Mut, der Sie s. Zt. noch weiter fahren ließ. Wir blieben in Kose zumal meine Eltern und meine Schwester am 10.2. auch noch hinzu kamen und wir meine Mutter und den tot kranken Vater nicht alleine lassen wollten. Als der Kessel schon geschlossen war, kam der Treckbefehl am 8.3.. Es war Wahnsinn. 3 Tage später hatten uns die Russen erreicht und den Treck zerschlagen und ausgeraubt. Ich stand mit den Kindern an der Hand auf der Straße. Aus dem Chausséegraben haben wir uns ein paar Lumpen gesammelt und sind zu Fuß weitergegangen. Am 16ten wurden wir dann nochmals ausgeraubt. Wir standen vor dem totalen Nichts. Mein Vater starb am 31.3., meine Schwester Ruth und mein Vetter aus Kose sind verschleppt. Der alte Herr Klatt, mein Onkel erschlagen; Gisela desgl. tot. Mein Mann blieb in der Festung Stettin, seitdem fehlt jede Spur.“

Frau Langenbach hatte im Dezember ihren zweiten Sohn Lutz zur Welt gebracht und lebte nun mit ihrem anderen Sohn Hartmut – meinem Spielkameraden aus Mohrungen – in einem kleinen Bahnarbeiter-Häuschen bei ihren Verwandten in Belgard.
Zunächst kamen wir hier unter. Der polizeiliche Anmeldebogen von meiner Mutter und mir nennt den 29. Januar 1945 als „zugezogen bei Treptow, Belgard/Pommern, Goethestraße 14“. Diese Anmeldung war äußerst wichtig, schon allein, um Lebensmittelkarten zu bekommen.
In dem kleinen Haus war es wegen der Enge mit den vielen Menschen und mit Langenbachs und dem Baby bald nicht mehr erträglich. Meine Mutter und ich konnten nach ein paar Tagen ein spärlich möbliertes Zimmer in einem Haus auf der anderen Straßenseite bekommen, welches einer Majorsfrau mit fünf Kindern gehörte.
Hier konnten wir fast normal leben. Obwohl die Schaufenster in den Geschäften immer leerer wurden, gab es auf Lebensmittelkarten das Notwendigste zu kaufen, und auf dem kleinen Ofen in unserem Zimmer konnten wir das Wenige zubereiten.
Das Leben war in diesen Februartagen hier in Pommern schon fast wieder so normal, dass meine Mutter, die in einem sonst fast leeren Schaufenster einen Rotstift und einen blauen Stift liegen sah, diese sofort kaufte: „Wenn Papa aus dem Krieg kommt, braucht er die zum Korrigieren der Schülerhefte“, erklärte sie mir.
Es war, als wollte sie sich selbst ein Geschenk zu ihrem 37. Geburtstag am 24. Februar machen.
„Und in den nächsten Tagen gehen wir rüber zu Langenbachs und Treptows und öffnen unsere von Mohrungen voraus geschickte Kiste, um zu sehen, ob alles heil angekommen ist“, sagte meine Mutter voller Pläne für die nächste Zeit.
Doch dazu kam es nicht mehr!

Die Unruhe in Belgard war in dieser letzten Februarwoche überall zu spüren. Man wusste, dass der Russe in Zentralpolen mittlerweile weit vorgerückt war. Gerüchte gingen um, dass die Armeen nun von Süden einen Vorstoß zur Ostsee machen wollten, um Hinterpommern einzukesseln. In diesem Gebiet lag Belgard. Überall herrschte wieder Aufbruchstimmung, aber einen geregelten Zugverkehr gab es nun auch hier nicht mehr.
Der Belgarder Apotheker Ewald Rasinski, der zum Sanitäts-dienst der Wehrmacht abkommandiert war, seinen Dienst jedoch in Belgard nahe seiner Familie ableisten konnte, schreibt in seinen Erinnerungen:
„So kam der Monat März heran, der letzte in Pommern.
Am 12. März 1945 wollten wir den siebenten Geburtstag unserer Renate feiern. Auf dem Tauschweg hatten wir für einen Sommermantel einen wunderschönen Puppenwagen erstan-den, der wohl verpackt über dem Schrank auf den Geburtstag wartete. Unser Kind hat ihn nie zu sehen bekommen …
Täglich gingen immer noch einige normale Lazarettzüge mit Schwerverwundeten aus der Stadt, da in Belgard alle Lazarette überfüllt waren.
Jetzt kamen auch schon mit Flüchtlingen zurückflutende Truppenteile. – Querbeet kamen einzelne fliehende Soldaten in den Stadtbereich. Wurden sie gefasst, dann war ein starker Ast am Straßenrand ihr Ende …
Am Tage zogen Gruppen von Hitlerjungen, die in den Volkssturm eingereiht wurden, mit ihren Panzerfäusten, Kampf-lieder singend, durch die Straßen Belgards. In einem Haus war eine Sammelstelle eingerichtet worden. Hier konnte die Bevölkerung Uniformen jeder Art abgeben, womit der Volkssturm ausgerüstet werden sollte … In zusammengewür-felten Uniformen zogen unsere Volkssturmeinheiten jetzt gegen die anrückenden, weit überlegenen Rotarmisten…
Die Stoßkeile der Roten Armee rückten in Richtung Küste vor. Pyritz, unser pommersches Rotenburg, wurde dabei restlos zerstört. In Stargard jedoch wurde der Vormarsch der Russen durch die Panzerdivision Holstein aufgehalten. Jetzt fuhren ihre starken Panzer in langer Reihe in unserer Friedrichstraße auf. Diese kampferprobten Männer könnten unsere Rettung bedeuten. Was aus der Einheit geworden ist, ob sie noch zum Einsatz kamen, ob genügend Sprit und Munition vorhanden waren, habe ich nicht mehr erfahren können …
Nun kam der letzte Tag heran.
In den Lazaretten wurde fieberhaft gearbeitet, um noch Ab-transporte realisieren zu können. Ohne die Arbeit der Apotheke hätten ja die unzähligen Verwundeten gar nicht versorgt werden können …
Das Verladen der Verwundeten ging zügig voran. Doch lag über allem der Schatten der völligen Auflösung. Es war noch versucht worden, auf dem Bahnhof mit letzten Waggons eine Art Behelfslazarett zusammen zu stellen ...
Auf meine Bitte hin, erlaubte mir Dr. Münkner, noch einmal kurz nach Hause zu gehen …
Gerade in dem Augenblick, als wir im Kontor am Telefon vorbeigingen, kam ein Anruf: „ALARM“ – Ich selber solle sofort zur Einheit kommen und meine Familie muss versuchen, so schnell als möglich zum Bahnhof zu eilen. Wahrscheinlich würde der jetzt beladene Zug noch in Richtung Stettin durchkommen …“
In unserem kleinen Zimmer in der Goethestraße habe ich als Kind von diesem Chaos in der Stadt wenig mitbekommen. Meine Mutter hingegen war voller Unruhe. Wie sollten wir hier nun auch weg kommen?
Aber wir hatten auch diesmal wieder Glück, bei all den Strapazen, die noch folgen sollten.

Am 1. März flüsterte Lotte Langenbach unter dem Siegel der Verschwiegenheit meiner Mutter zu, dass ein Lazarettzug von Belgard abgehen sollte. Ihr Onkel und andere bei der Bahn Beschäftigte wollten hier für sich und ihre Familien einige Wagen anhängen.
„Hier müssen wir mit, egal wie“, sagte meine Mutter fest entschlossen, und wir packten noch am Abend unsere Koffer und Taschen.An einem Morgen danach – war es der 2. März oder gar schon der 3. März (?) – sahen wir, wie die Verwandten von Langenbachs einen Handwagen mit ihrem Gepäck beluden. Wir nahmen sofort unsere Sachen und gingen auf die Straße. Ich hatte wieder den Gepäckanhänger um den Hals mit unserer Mohrunger Adresse und war wieder mit Rucksack und zwei Taschen bepackt.
Im Laufschritt zogen Langenbachs und die Nachbarn nun los. Wir konnten kaum folgen. Ich stellte eine meiner Taschen auf den Handwagen und hielt mich ein bisschen im Gehen fest. „Wirst Du mal loslassen“, wurde ich angeschrien, „sollen wir dich auch noch ziehen!“ Sie waren dann auch schnell um die nächste Straßenecke verschwunden.
Meiner Mutter fielen ihre zwei Koffer vor Schwäche alle paar Meter aus den Händen. In der Bahnhofstraße sah das ein einarmiger Bahnbeamter. Er kam über die Straße und half wenigstens einen der Koffer zu tragen.
Die Waggons, die angekoppelt werden sollten, waren schon voller Menschen als wir endlich ankamen. Es hatte sich wohl doch in der Stadt herumgesprochen, dass noch ein Zug gehen würde. Es waren sogenannte „preußische Personenwagen“, bei denen jedes Abteil eine extra Tür zum Einsteigen hatte. Nur jeweils zwei Abteile waren durch einen schmalen Gang miteinander verbunden, damit man die Toilette erreichen konnte. In das Abteil, in dem Langenbachs schon saßen, zwängten wir uns nun auch noch hinein
Hier müssen wir mit!
Es herrschte eine drangvolle Enge. Die Gepäcknetze und der Gang waren voll gestellt mit Koffern, Kisten und Wäschekörben. Zwischen den Knien der sich gegenüberliegenden Bänke stand der Kinderwagen mit dem Baby von Frau Langenbach. Ihren Sohn Hartmut musste sie auf den Schoß nehmen, damit meine Mutter sich überhaupt auf die Bank zwängen konnte. Auch ich musste bei meiner Mutter auf dem Schoß sitzen.
Endlich wurden die Wagen an den Lazarettzug angekoppelt.

Es ging zunächst in südliche Richtung. Nach ca. 30 km in Schivelbein musste die Lokomotive Wasser aufnehmen. Kaum waren wir aus dem Bahnhof heraus, hielt der Zug schon wieder: „Tieffliegeralarm! – Alles raus und unter den Zug in Deckung!“
Kurz hinter Schivelbein begrüßte uns Geschützdonner!
Der Zug hielt und alles starrte in Richtung Stadt. Ich besinne mich noch genau an den Feuerschein des Mündungsfeuers von schweren Waffen, der vor uns in jeweils kurzen Abständen aufblitzte.
Allen war sofort klar, weder Richtung Süden nach Küstrin und Frankfurt/Oder noch nach Westen über Stettin war von hieraus ein Durchkommen. Der Russe schnitt den Weg nach Westen ab und war uns schon ganz nahe.
Also musste der Zug zurück und eine andere Strecke suchen! – Nach vielen, weiteren Stunden standen wir wieder in Belgard auf dem verlassenen Bahnhof!
Die Lokomotive musste sich wieder mit Wasser und Kohlen versorgen. Währenddessen gingen einige Männer in die menschenleere Stadt, um Esssachen zu „besorgen“. Sie kamen tatsächlich auch mit einigen Broten und etwas Milch zurück. Die Verteilung klappte dann dank einiger energischer Leute auch erstaunlich gut. Es bekam jeder etwas ab.
Der Zug setzte sich wieder in Bewegung und musste sich seinen Weg nun selber suchen. Es sollte nun über die Nebenstrecke Richtung Norden und über Kolberg gehen. Bahnhöfe und Stellanlagen waren nicht mehr besetzt. Die Lok-Führer und Bahnleute mussten alles selber machen. Signale und Weichen stellen; vor allem aber die richtigen Gleise finden.

Dieser 3. März – unser zweiter Startversuch aus Belgard – ist von entscheidender Bedeutung, weil er einem besonderen militärischem Umstand zu verdanken ist.
Der Russe stieß in diesen Tagen mit seiner „19. Russischen Armee“ von Süden auf Köslin zu, welches östlich von Belgard liegt. Die verbündete „1. Polnischen Armee“, drang gleichzeitig über Schivelbein nach Norden vor. Zwischen beiden Armeen war in den ersten Märztagen eine Lücke entstanden, in der Belgard und unser Schienenweg lag.
Diese „1. Polnische Armee“ erreichte Kolberg jedoch schon am 4. März. Die Stadt konnte von deutschen Truppen aber noch bis zum 18. März gehalten werden, so dass noch die Evakuierung vieler Flüchtlinge gelang.
Stargard wurde hingegen bereits am 4. März von den Russen eingenommen. Und die Ostseeküste erreichten russische Verbände bis zum 9. März 1945.

Der Belgarder Apotheker Ewald Rasinski, der mit seiner Familie auch in diesem Lazarettzug saß, schrieb über diesen 3. März in seinen Erinnerungen:
„Es graute der Tag, der 3. März dämmerte herauf … Niemand konnte sagen, ob der Lazarettzug – von Belgard – überhaupt noch abfahren würde. Völlige Unklarheit herrschte über den Frontverlauf.
Endlich! Es war wohl gegen 10 Uhr. Plötzlich gab es einen Ruck, die Lok zog an und langsam, zu langsam verließ der Zug den Bahnsteig…
Schivelbein kam in Sicht, die Geburtsstadt Rudolf Virchows, des berühmten Chirurgen der Berliner Charitée.
Doch plötzlich wurde die Bahnstrecke beschossen. Russische Panzer standen vor uns. Die schnell abgekoppelte Lok führte eine kurze Erkundung durch und begann danach sofort den Zug wieder zurückzuschieben … Etwa gegen Mittag waren wir wieder in Belgard …
Jetzt waren es nur noch wenige Stunden, die uns von dem Einmarsch der Russen trennten. Auch der Ring um Kolberg drohte sich zu schließen. Sollten wir wieder unsere Verwundeten ausladen? Endlich, am Spätnachmittag setzte sich der Zug in Bewegung und in der Dämmerung kam Kolberg in Sicht.
Hier dasselbe Bild wie in Belgard. Neben den 35.000 Einwohnern der Stadt, warteten noch 50.000 Flüchtlinge auf Rettung. Die großen Schiffseinheiten, die Admiral Dönitz zur Rettung beordert hatte, lagen wegen des kleinen Hafens in der Mündung der Persante, weit draußen auf Reede. Kleinere Schiffe hielten die Verbindung aufrecht. Aus Angst vor dem Schicksal der „Gustloff“, versuchten jedoch Tausende mit dem Zug wegzukommen. Dadurch war vor dem Bahnhof eine ungeheure Menschenansammlung entstanden …
Die Nachrichten für eine Fahrt über Naugard klangen zuversichtlich. Vor der Abfahrt untersuchten Feldjäger die Abteile nach Leichtverwundeten und flüchtenden Soldaten. Sie wurden zur Verteidigung von Kolberg eingesetzt …
Die Sprengungen der Persante- und Holzgrabenbrücken waren vorbereitet. Würden wir sie noch vorher passieren können?
Endlich rollte der Zug in den Kolberger Güterbahnhof und hinter uns flogen die Brücken in die Luft …“

Die Angst, ob wir noch in all dem Chaos einen Schienenweg Richtung Westen finden würden, fuhr weiterhin ständig mit. Und es ging nur langsam voran. Dauernd musste der Zug anhalten. Mal hatte er keinen Dampf mehr, weil der Zug für die Lokomotive viel zu schwer war, mal wusste keiner, welche der Nebenstrecken Richtung Westen wirklich zu einem Oderübergang führen würde. Und dann war wieder Fliegeralarm und alles musste raus und unter den Zug kriechen.
Ich saß meiner Mutter nun schon den dritten Tag und die zweite Nacht ununterbrochen auf dem Schoß. Ab und zu verteilten Männer bei den vielen Halts etwas Brot und aus der kleinen Küche des Lazarettzuges etwas zu trinken. Viele hatten auch schon Durchfall. Die Toiletten waren verstopft und stanken. Fast alle Menschen im Zug kratzten sich unaufhörlich wegen ihrer Läuse. Andere wiederum waren im Begriff überzuschnappen. Mir gegenüber saß ein älterer Mann, der meistens vor sich hindämmerte. Immer wenn unsere Blicke sich trafen, drohte er mir mit dem Zeigefinger: „Du hast die weißen Mäuse losgelassen, sieh, sieh“ – und er zeigte aus dem Fenster – „wie sie laufen.“
„Sieh nicht hin“, sagte meine Mutter.
Ein einzelner Soldat tauchte am vierten Tag unserer Irrfahrt auf. Niemand fragte woher er kam und wohin er wollte. Er ist mir deshalb in Erinnerung geblieben, weil er eine Idee hatte. Wie alle Soldaten hatte er in seinem Marschgepäck eine Zeltplane, mit der er notfalls im Freien übernachten, oder mit einem Kameraden ein kleines Zelt bauen konnte.
Diese Zeltplane spannte er zwischen die sich gegenüber liegenden Gepäcknetze und schuf so eine Art Hängematte, in der Hartmut Langenbach und ich schlafen sollten. Dadurch wurden unsere Mütter, die schon am Ende ihrer Kräfte waren, von unserem ständigen Gewicht befreit.
Es war für mich etwas gruselig hier oben zwischen den Gepäckstücken und jedesmal, wenn die Abteiltür aufgemacht wurde, hatte man das Gefühl herauszufallen. Hartmut Langenbach hielt es auch nicht lange aus. Er schrie nach seiner Mama. So hatte ich den Platz für mich alleine und konnte nach Tagen mal wieder tief schlafen.

Über die Weiterfahrt unseres Lazarett- bzw. Flüchtlingszuges berichtet Ewald Rasinski:
„ Zunächst wurde uns Naugard zum Ziel gesetzt. Später dann aber Stettin als Endziel genannt. Brände am südlichen Himmel und das Grollen der Front warnten uns aber vor der Fahrt nach Stettin. Darum ging es an der Küste entlang nach Cammin, einem früheren Bischoffsitz …
In der Nähe des Camminer Bahnhofes wurde ein Fass Butter entdeckt. Die Beute wurde sofort unter die Zuginsassen verteilt. Der Bedarf an Milch wurde immer dringender. Milch und Getränke gab´s nicht, das Risiko, unterwegs schnell in ein Dorf zu laufen, war zu groß, da trotz des schleichenden Zugtempos dieses rettende Schiff verpasst werden konnte. So begann man damit, das Eis in den Gräben zu sammeln, um es aufzutauen. Andere zapften aus der Lokomotive Kondenswasser.
Gegen Abend verließen wir Cammin. Rollender Geschütz-donner war unsere Begleitmusik. Je mehr wir uns Stettin näherten, umso bedrohlicher klang der Gefechtslärm. Es gelang mir, während der Fahrt zum Lokführer vorzustoßen, um ihn davon zu überzeugen, dass die Fahrt in dieser Richtung in den Tod führte. Er ließ sich überzeugen und stoppte den Zug. – Jetzt aber mangelte es der Lok an Wasser. Banges Warten folgte wieder. – Endlich kam die Lok zurück, der Zug fuhr an und mit längeren Pausen ging es langsam voran ...
Gegen Morgen überquerten wir die Divenow in Richtung Wollin. In den Waldgebieten dahinter kamen wir nicht weiter. Das vor uns liegende V-Waffenzentrum wurde pausenlos bombardiert. Während einer Bombenpause erhielten wir zum ersten Mal aus einem Wagen des DRK von freiwilligen Helfern warme Suppe gereicht … Südlich von uns lag die Stadt Wollin …“

Es geschehen noch Wunder! Am 7. März 1945 erreichte unser Zug die Insel Wollin und stand gegen Mittag im Hafen von Swinemünde. Für die ca. 120 km von Belgard bis hierher hatten wir fünf Tage gebraucht.
Zwei Tage später war der Russe auch hier!
Nach stundenlangem Warten wurde unser Zug auf eine Fähre geschoben und wir wurden über die Odermündung auf die Insel Usedom übergesetzt. Von meinem Ausguck sah ich die zerbombten Lagerschuppen im Hafen von Swinemünde, halb versenkte Schiffe, bei denen nur noch die Aufbauten aus dem Wasser ragten, oder deren Heck auf Grund lag, während der Bug hoch aus dem Wasser ragte.
Auch hier sind die Erinnerungen von Ewald Rasinski von besonderem Interesse:
„Langsam zog sich der Zug an die Kaiserfahrt heran … Um einen besseren Zugang zum offenen Meer zu schaffen, hatte Kaiser Wilhelm II den mittleren Mündungsarm der Oder, die Swine, zu einer breiten Wasserstraße ausbauen lassen. Fähren jeder Art besorgten den Übersetzungsverkehr.
Hier lag drüben nun das rettende Ufer ...
Nun blickten wir sorgenvoll ans andere Ufer und immer wieder auf die Uhr. Stunde um Stunde verging. War hier überhaupt eine Leitung zu spüren? …
Von Zeit zu Zeit rückte der Zug ein wenig flusswärts. Da, die Fähre! Endlich ein kräftiger Ruck! Auf dem Trajektdampfer überquerten wir nun den breiten Strom.
Wir waren jenseits der Oder!“
Unsere Verstorbenen hatten wir auf der Insel Wollin an der Bahnstrecke hinterlassen müssen. Da nicht alle Verwundeten mit Tetanusserum geimpft werden konnten, starben viele von ihnen unterwegs … Auch starben einige Säuglinge wegen des Milchmangels.“

Nun ging die Fahrt etwas schneller voran. Es ging von der Insel Usedom über die Karniner Brücke – die einige Tage später ebenfalls gesprengt wurde – über die Peene Richtung Anklam und weiter nach Neubrandenburg. In den Bahnhöfen in Mecklenburg erwarteten uns Rot-Kreuz-Schwestern und BDM-Mädchen, die uns mit heißen Suppen und etwas Essbarem versorgten.
An irgendeinem kleineren Bahnhof stiegen Langenbachs aus. Sie wollten auf eigene Faust zu entfernten Verwandten nach Sachsen-Anhalt. Das Angebot an uns, doch mitzukommen, schlug meine Mutter aus. „Ich steige hier nicht eher aus, als bis ich rausgeschmissen werde“, antwortete meine Mutter apathisch.
Es ging weiter nach Schleswig-Holstein. In Malente wurden die schwer verwundeten Soldaten aus den Lazarett-Waggons ausgeladen.
Es gab nun etwas mehr Platz im Zug und auch wir stiegen in einen dieser Großraum-Waggons um. Hier war es aber auch nicht viel besser. Es roch nach Blut und Eiter. Unter den Sitzen lagen verschmierte und schmutzige Verbände. Niemand hatte ernstlich Interesse diesen Zustand zu verbessern.
Unsere Irrfahrt war aber noch nicht zu Ende.
Ewald Rasinski erinnert sich:
„Es sickerte die Nachricht durch, dass der Zug in den Harz gehen sollte. Einen Tag und eine Nacht fuhren wir. Gegen Morgen kam Magdeburg in Sicht. Halberstadt, Bad Harzburg und Goslar wurden erreicht …“
Gegen Mittag des 9. März hieß es dann auf einem kleinen Bahnhof: „Flüchtlinge alle aussteigen!“
Wir waren in Osterode am Harz!

Es war der Tag – aber das wussten wieder da noch nicht – an dem mein Großvater Ernst Rudolf Krause – 73 Jahre alt – in Stolp von einem russischen Soldaten erschossen wurde, weil er sich nicht zur Zwangsarbeit nach Russland verschleppen lassen wollte. Seine letzten Worte sollen – so meine Großmutter später – gewesen sein: „So schieß in Gottes Namen.“
Meine Großeltern waren von Kreuzburg über den Ostseehafen Pillau in Ostpreußen und die Halbinsel Hela bis nach Stolp in Pommern gekommen und hier nicht mehr rechtzeitig weg gekommen.

Im Wartesaal des Osteroder Bahnhofs wurden wir mit heißen Getränken versorgt, und es hieß dann, angesichts der vielen erschöpften und oft kranken Kinder: „Frauen mit Kindern aufs Land, wo ein Arzt ist.“
So nahmen wir wieder unsere Sachen und stiegen gegenüber dem Bahnhof in eine Schmalspurbahn, die Kreisbahn des Kreises Osterode am Harz, die die umliegenden Dörfer mit der Kreisstadt verband.
Wir landeten in dem Dorf Förste, einer Gemeinde mit 1500 Einwohnern, denn hier war weit und breit der einzige Arzt ansässig.
BDM-Mädchen mit Handwagen nahmen uns am Bahnhof in Empfang und brachten uns in den Saal des Gasthauses Küster. Hier gab es für uns nach über einer Woche die erste wirkliche warme Mahlzeit: eine Kartoffelsuppe! „Nie vorher und nie nachher hat mir eine Kartoffelsuppe so gut geschmeckt wie an diesem Abend“, sagte meine Mutter später einmal.
Der „Ortsbauernführer“ begrüßte alle im Namen des Führers. Dann wurden alle Flüchtlinge registriert und auf die ansässigen Familien verteilt. Wir kamen zu der Familie des Schusters Behrens, der ein kleines Haus in mitten des Ortes mit Nebenerwerbslandwirtschaft bewohnte. Von der Eingangsdiele aus ging es links in die gute Stube und geradeaus in die große Wohnküche, neben der ein kleines Wohnzimmer lag. Weiter geradeaus kam man auf den kleinen Wirtschaftshof mit Stallungen für Ziegen, Schweine und Hühner und ganz hinten war das Plumps-Klo. Die Schusterwerkstatt lag im ersten Stock, und die beiden nicht beheizbaren Schlafkammern waren nur durch die Werkstatt zu erreichen.

Man bot uns für die erste Nacht die bessere Kammer an. Zum ersten Mal seit über einer Woche konnten meine Mutter und ich uns wieder in ein schneeweiß bezogenes Bett legen.
Halb entschuldigend sagte meine Mutter zu Frau Behrens: „Machen Sie sich nicht soviel Umstände, es wird ja bald wieder zurück gehen!“

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