6.
Die Flucht in Ostpreußen |
Mit dem Vorrücken der Roten Armee auf ostpreußischem Boden wuchs
die Angst der Bevölkerung vor den Gewalttaten seitens der Roten Armee.
Trotz offizieller Fluchtverbote machten sich viele Menschen auf den Weg
zu einem vermeintlich sicheren Ort.
Bei der ersten großen sowjetischen Offensive im Baltikum im August
1944 wurde am 4. August die erste Evakuierungsanordnung erlassen.
Die von der Roten Armee bedrohten Memeldeutschen flohen dementsprechend
in die westlichen Landesteile Ostpreußens.
Doch bereits wenige Tage später wurde der Erlass wieder rückgängig
gemacht und viele Memeldeutsche kehrten in ihre Heimat zurück.
Diese Menschen waren somit die ersten Opfer der verfehlten staatlichen Flüchtlingspolitik,
denn sie fielen bei der nächsten Offensive im Oktober 1944 zum großen
Teil in sowjetische Hände.
Verspätete oder erst gar nicht durchgeführte Evakuierungen, die
das Schicksal Hundertausender besiegelte, sollte fortan die offizielle Politik
bestimmen, denn Flucht vor dem Feind wurde als „Defätismus“
abgetan.
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|
6.1.
Flüchtlingsströme |
Nach den ersten Angriffen auf Ostpreußen im Sommer bzw. im Herbst
1944 war die Fluchtrichtung der Zivilbevölkerung klar zu leiten, da
die Angriffe der Roten Armee von Nordosten über die Memel oder von
Osten über Gumbinnen auf ostpreußisches Gebiet kamen.
Die Flüchtlingstrecks zogen somit immer in Richtung Westen, da Ostpreußen
zu diesem Zeitpunkt noch nicht von Süden und Westen her bedroht war.
Die Flüchtlinge wurden innerhalb Ostpreußens auf die einzelnen
Landkreise verteilt. Hierbei gab es ein Muster, wonach jeder durch sowjetische
Truppen bedrohte Landkreis einen oder mehrere „Gegenstücke“
im sicheren Gebiet Ostpreußens hatte. Der für diese Arbeit interessante
Kreis Mohrungen nahm Flüchtlinge aus den Kreisen Insterburg und Angerapp
auf |
|
Abb.
6 Geplante Evakuierung der Zivilbevölkerung, Ende 1944 |
Die Linie der sicheren Kreise lag nach der Vorstellung der Strategen zwischen
den Kreisen Labiau und Sensburg, die östlich dieser Linie liegenden
Kreise sollten im „Bedarfsfalle“ evakuiert werden. Pläne
die einen weitergehenden Vorstoß der Roten Armee ins Landesinnere
berücksichtigten, gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Die Situation während der großen Winteroffensive im Januar 1945
sollte wesentlich komplizierter und unkoordinierter sein als die Planspiele
der Verantwortlichen.
Zu diesem Zeitpunkt befanden sich noch rund 1.754.000 Menschen im feindfreien
Ostpreußen.73 Die wenigsten von ihnen hatten das Glück, rechtzeitig
fliehen zu können.
Die Darstellung der Flüchtlingsströme ab dem 13. Januar 1945 ist
überaus komplex – auf eine detaillierte gesamtostpreußische
Flücht-lingssituation kann hier nicht eingegangen werden; daher wird
für den Raum Ostpreußen nur eine grobe Fluchtbewegung dargestellt.75
Die Entwicklung und Richtung der Flüchtlingsströme sind in allen
Fällen durch das Vordringen der Roten Armee bedingt. Ab dem 13. Januar
mit dem Beginn der sowjetischen Offensive gegen Ostpreußen kann man
auch die ersten großen Flüchtlingstrecks der ostpreußischen
Zivilbevölkerung verfolgen.
Generell ist hier zu erwähnen, dass die wenigsten Trecks oder Evakuierungen
mehr als ein bis zwei Tage vor dem Eintreffen der Roten Armee in den entsprechenden
Orten eingeleitet wurden. Diese Form der Evakuierung von „Vorne nach
Hinten“ hatte dann entsprechende Nachwirkungen. Die Rote Armee stieß
fast immer schneller vor, als die Zivilisten vor ihrem Vordringen fliehen
konnten. Die vorrückende Front schob somit eine Flüchtlingswelle
vor sich her, die durch ständig hinzukommende Flüchtlinge rasch
anwuchs. |
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Abb.
8 Evakuierungsplan Kreis Mohrungen
|
6.2.
Treckarten |
Da die Flucht vor den sowjetischen Truppen nicht organisatorisch vorbereitet
war, nutzten die Menschen jegliche erdenkliche Art von Fortbewegungsmittel.
Sie schlossen sich zu kleinen oder großen Flüchtlingstrecks zusammen.
Hier sollen nur kurz die am häufigsten vorkommenden Treckarten aufgeführt
werden.
Hauptsächlich flohen die Menschen in kleineren Zusammenschlüssen
ihrer Dorfgemeinschaft oder Gehöfte. Im Falle der Gehöfte stellten
die Knechte, je nach Größe des Anwesens, zwischen einer und zehn
Kutschen bereit. Die fast ausschließlich bespannten Fahrzeuge wurden
mit einigen Besitztümern und Lebensmitteln beladen.77 Auf den Wagen
konnten dann alle Familien- und Hofangehörige Platz nehmen.
Diese kleinen Trecks schlossen sich dann mit denen der näherliegenden
Dörfer zusammen.
Dort standen den Menschen nicht so viele Kutschen wie auf den Bauernhöfen
zur Verfügung. Die Dorfbewohner nutzten hier in Ermanglung von Zugtieren
einfache Holzschlitten79 oder Bollerwagen, die mit dem Allernötigsten
beladen wurden. Die Flüchtlinge liefen dann den Großteil des
Weges zu Fuß neben den Schlitten her, nur Alte oder Kleinkinder konnten
auf den Gefährten Platz nehmen.
Den meisten Flüchtlingen dürfte allerdings nicht einmal diese
einfache Art des Transports zur Verfügung gestanden haben – sie
mussten im schlimmsten Fall mehrere hundert Kilometer zu Fuß zurücklegen.
Die Flüchtlingsströme vereinten sich an den großen Verkehrs-knotenpunkten
– wie bei Pr. Holland – zu gigantischen, nicht endenden Menschenströmen.
Durch Schäden von Kutschen, durch das Sterben der Zugtiere oder der
schieren Überlastung der kleinen Alleen kamen die Menschen kaum mehr
voran. Die Rote Armee mit ihren schnellen motorisierten Verbänden holte
sie bereits nach einigen Tagen ein.
Die Menschen in den Städten hatten andere Schwierigkeiten als die Landbevölkerung.
Ihnen standen keine Zugwagen oder ähnliche Fortbewegungsmittel zur
Verfügung. Ihr Hoffnungen lagen auf den Evakuierungszügen der
Reichsbahn.
Doch auch hier zeigte sich die Unfähigkeit der politischen Führung,
eine sichere und systematische Flucht zu gewährleisten.
Obwohl das Schienennetz noch zum größtem Teil intakt war, konnte
es nur unzureichend genutzt werden. Eine zu geringe Anzahl von Zügen
wurde für die Menschen bereitgestellt. Auf den Bahnhöfen, wie
zum Beispiel in der Kreisstadt Mohrungen, spielten sich bei der Bereitstellung
eines Zuges für mehrere tausend Menschen schreckliche Tragödien
ab. Der Platz reichte meist nur für einen Bruchteil der wartenden Menschen,
die dann ohne Hoffnung auf einen weiteren Zug am Bahnhof zurückbleiben
mussten
|
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Abb.
9 Evakuierung von Flüchtlingen mit offenen Viehwaggons |
Eine letzte Möglichkeit war die Flucht mit den zurückziehenden
Wehrmachtseinheiten. Gelegentlich teilten die Soldaten den schon für
sie zu geringen Platz auf ihren LKW mit den Flüchtlingen.
Diese Art der Flucht war aber gefährlich.
Die Menschen waren hier besonders in Gefahr, da es sich schließlich
um militärische Transporte handelte, von Einheiten der sowjetischen
Armee angegriffen zu werden. Ebenfalls konnten die Einheiten nicht einfach
nach Westen fliehen, wie es die zivilen Flüchtlinge versuchten –
oftmals mussten die militärischen Konvois wieder Richtung Front ziehen
und setzten damit die mit ihnen flüchtenden Zivilisten einer zusätzlichen
Gefahr aus.
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|
6.3.
Die Flucht über den Seeweg |
Neben der Landflucht war die Flucht über die Ostsee ein wesentlicher
Bestandteil des Flüchtlingsdramas von 1945. Nach den russischen Vorstößen
im Januar 1945 wurden Ostpreußen und bald auch Pommern vom restlichen
Reich abgeschnitten. Die sich nach Westen bewegenden ostpreußischen
Flüchtlingstrecks wurden bei ihrem Durchzug durch Hinterpommern von
der Roten Armee überrollt oder erneut eingekesselt.
Ähnlich erging es den Ostpreußen, die ihr Glück in der
Flucht nach Königsberg bzw. Pillau am Frischen Haff suchten. Sie
wurden ebenfalls von der Roten Armee im Raum Königsberg eingeschlossen.
Auch hier war die Flucht über Land unmöglich geworden.
Ab Mitte Februar 1945 war der Landweg nach Westen endgültig durch
die Sowjets blockiert.
Die Wehrmachtsführung erkannte diese bedrohliche Situation und beauftragte
den Konteradmiral Konrad Engelhardt, einen Eva-kuierungsplan über
See zu erarbeiten. Großadmiral Karl Dönitz befahl dem Admiral,
jedes verfügbare Schiff verfügbar zu machen. Es gelang Engelhardt,
790 Schiffe unterschiedlicher Größe für die Evakuierung
der Flüchtlinge und Soldaten einzusetzen.83 Das größte
Problem bei der Evakuierung stellte die knappe Treibstofflage dar. Aus
diesem Grunde wurden Kohledampfer aus Norwegen abgezogen, um die Evakuierungsschiffe
mit dem nötigen Treibstoff zu versorgen.
Am 23. Januar 1945 begannen die Evakuierungen über See in Ostpreußen.
Bei den ersten Schiffen, die Ostpreußen verließen, war auch
die „Ostpreußen“, die am 28. Januar den Gauleiter und
Reichs-verteidigungskommissar Erich Koch mit einen Teil seines Stabes
aus Königsberg evakuierte.
Koch zog es vor, „seinen“ Gau so schnell wie möglich
zu verlassen, anstatt die Evakuierung der hunderttausend verbliebenen
Einwohner zu koordinieren.
Viele Menschen, die aus dem nordöstlichen Teil Ostpreußens
in Richtung Königsberg geflohen waren, suchten – ebenso wie
die von der Roten Armee im Westen Ostpreußens auf das Frische Haff
abgedrängten Flüchtlinge – ihr Glück in Königsberg.
Einige Zeit noch wurden Reichsbahnzüge zum Transport der Flüchtlinge
in Richtung Pillau bereitgestellt. Von dort aus sollten die Menschen eingeschifft
werden.
Bereits am 30. Januar 1945 war Königsberg vollkommen von den sowjetischen
Truppen eingeschlossen. Die unzähligen Flüchtlings-ströme
konnten nicht mehr über den Landweg nach Pillau gelangen, die Menschen
wählten nun den gefährlichen Weg über das zugefrorene Frische
Haff. Tausende Menschen brachen mit ihren für das dünne Eis
zu schweren Wagen ein und ertranken in der eiskalten Ostsee. Ab Ende Februar
begann das Eis des Haffs derart schnell zu schmelzen, dass der Flucht
über das Eis ein Ende gesetzt wurde.
Bis Ende Februar 1945 konnten nach vorsichtigen Schätzungen 450.000
Menschen über das zugefrorene Haff fliehen.87
Ab Ende Februar hatten die Menschen dann keine Möglichkeit mehr,
den rettenden Seehafen Pillau oder die eingeschlossene Stadt Königsberg
zu erreichen, da die Rote Armee die Zufahrtswege zum Haff blockierte.
Ziel der Wehrmacht war es nun, Königsberg so lange wie möglich
vor der Einnahme durch die überlegenen sowjetischen Belagerer zu
verteidigen, um soviele Flüchtlinge, Soldaten und Zwangsarbeiter
wie möglich zu evakuieren.
Die Kriegsmarine konnte so bis zum Fall der Stadt am 9. April 1945 noch
unzählige Menschen über Pillau auf dem Seeweg retten.
Vielen Ostpreußen gelang ab Mitte Februar bis in den April hinein
die Flucht über pommersche Hafenstädte wie Kolberg. Diesen Ostpreußen
und vielen Pommern wurde der Weg in Richtung Oder durch das schnelle Vordringen
der Roten Armee versperrt. Auf diese Weise vereint sich die Flucht über
Land inhaltlich mit der Evakuierung über die Ostsee.
Von Hela aus fuhren noch bis zur Kapitulation am 8. Mai 1945 Schiffe vollbeladen
mit 70.000 Flüchtlingen und Soldaten in Richtung Dänemark, um
diesen das schwere Schicksal einer sowjetischen Gefangenschaft zu ersparen.
Nach einer solchen Evakuierung waren die Flüchtlinge noch nicht in
Sicherheit. Die sowjetische Marine und Luftwaffe versuchten systematisch
eine Evakuierung über See zu verhindern. Trotz Begleitschutz in Form
von Zerstörern und Schnellbooten wurden einige Schiffe versenkt.
Zu erwähnen sind hier besonders die „Goya“ – versenkt
am 16. April 1945, hierbei starben 6.500 Menschen – und die „Wilhelm
Gustloff“ – versenkt am 30. Januar 1945, hierbei ließen
5.100 Menschen ihr Leben.
Insgesamt sind nach vorsichtigen Schätzungen ca. 20.000 Flüchtlinge
bei der Evakuierung über See ums Leben gekommen. Diese scheinbar
hohe Zahl steht 2 Millionen Geretteten gegenüber, damit starben ca.
ein Prozent der Flüchtlinge bei dieser Art der Evakuierung.
Die Quote der bei der Flucht über Land ums Leben gekommenen Menschen
liegt hingegen bei 15,5 %.91 Damit ist die Seerettung der Flüchtlinge
durchaus als erfolgreiche Unternehmung anzusehen, die vielen Menschen
das Leben rettete.
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|
7.
Die Flucht aus den einzelnen Kirchspielen und Städten |
Im Kreis Mohrungen gab es annähernd 50.000 Einzelschicksale. Den Menschen
sind die schlimmsten und grausamsten Dinge widerfahren, die man sich nur
denken kann. Viele hatten das Glück, sich retten zu können, allerdings
hatten nur wenige von ihnen keine Verluste in ihren Familien zu beklagen.
Ob zu Fuß oder mit einem Handwagen, mit dem Schiff über die Ostsee
oder mit der Wehrmacht zurück in sicheres Reichsgebiet – die
Flucht vor der Roten Armee war vermutlich die gefahrenvollste und entbehrungsreichste
Zeit im Leben dieser Menschen.
Im Folgenden sollen einige Einzelschicksale exemplarisch die Zeit der Flucht
veranschaulichen.
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7.1.
21. Januar 1945 – der Exodus beginnt |
In der Woche vor dem 21. Januar hatte es stark geschneit. Die Straßen
waren durch die anhaltende Kälte vereist, und Mensch und Tier litten
unter den niedrigen Temperaturen – -20° C war die durchschnittliche
Tagestemperatur, wer es sich leisten konnte, blieb in den geheizten Häusern.
Doch das nahende Unheil war schon über Kilometer hinweg zu hören.
Die sowjetische Artillerie nahm gegnerische Stellungen unter Beschuss. Ostpreußen
wurde mittlerweile schon seit 10 Tagen von der Roten Armee angegriffen.
Die Menschen ahnten, was ihnen bevorstand. Insgeheim bereiteten sich schon
viele auf die Flucht vor – doch dies war unter Androhung der Todesstrafe
verboten.
Also blieb man – in der stillen Hoffnung, die Wehrmacht könnte
den Feind zurückdrängen, doch die Wehrmacht war nur noch ein Schatten
ihrer selbst.
Sowjetische Panzerkolonnen – die Vorhut der Offensive – sollten
als erste das Kreisgebiet erreichen. Bereits in der Nacht vom 21. auf den
22. Januar wird aus Maldeuten93 von russischen Panzern berichtet.
Dieser schnelle Vorstoß der Roten Armee wird zwar in den offiziellen
Quellen nicht bestätigt, würde aber strategisch Sinn ergeben.
Zum einen war über diese Kreisstraße am schnellsten das operative
Ziel Elbing zu erreichen, zum anderen konnte von dieser Position aus die
Besetzung des Kreises am günstigsten bewerkstelligt werden.
Diese ersten Sichtungen von Rotarmisten weckten die zuständigen Parteiorgane
im Kreis Mohrungen auf. Erst jetzt schien man sich dort der Gefahr für
den Kreis bewusst geworden zu sein.
Man benötigte einen halben Tag, um die Bevölkerung vor den näher
rückenden sowjetischen Truppen zu warnen.
Erst am 21. Januar 1945 um 17:30 Uhr erging im Kreis Mohrungen der Räumungsbefehl
durch den Kreisleiter Erich.
In einer Telefonkette wurden alle NSDAP-Behörden des Kreises über
die Weisung informiert.
Diese leiteten die Evakuierungsanordnung an ihre untergeordneten Einrichtungen
weiter. In den kleinen Orten oder Gütern wurden die Bürgermeister
bzw. die Ortsbauernführer informiert. Diese benachrichtigten dann die
Menschen persönlich oder ebenfalls telefonisch.
Bis in den Nacht vom 21. auf den 22. Januar wurden die meisten Menschen
informiert, die letzten erreichte die Information durch „Mundpropaganda“
der Nachbarn.
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|
7.2.
Die Flucht aus den Städten |
Die Flucht aus den Städten gestaltete sich wesentlich schwieriger als
aus den Landgemeinden. Die Städte waren in der Regel strategische Ziele
der Roten Armee, hier befanden sich oftmals wichtige Verkehrsknotenpunkte
und große Ansammlungen von Wehrmachtseinheiten.
Der städtischen Bevölkerung blieb also zwangsläufig weniger
Zeit zur Flucht als der Landbevölkerung.
Die Flucht der Stadtbevölkerung soll hier am Beispiel der Stadt Mohrungen
dargestellt werden.
Mohrungen wurde bereits nach wenigen Stunden Ziel der sowjetischen Offensive.
Bei Liebemühl (südlich der Kreisgrenze) trennten sich bereits
am 22. Januar eine große Anzahl sowjetischer Einheiten von der Hauptangriffsrichtung
von Osterode über Pr. Holland nach Elbing in Richtung Mohrungen.
Diese Panzertruppen kamen am späten Nachmittag desselben Tages mit
deutschen Panzerabwehrtruppen bei Himmelforth, unmittelbar vor Mohrungen,
in Kontakt.
Die Zivilbevölkerung in der näheren Umgebung hatte offiziell erst
am Vorabend von dem offiziellen Fluchtbefehl erfahren. Einige wenige Glückliche
erfuhren schon wenig früher von der drohenden Gefahr:
„Am Sonnabend abends (20.1.) kam Frau Fischer [...], deren Mann Verbindung
zu höheren Offizieren hatte [zu uns] und riet uns zur baldigen Flucht.
Offiziell wurde kein Fluchtbefehl für die Bevölkerung erteilt.“
Die Menschen packten ein paar warme Kleidungsstücke, Lebensmittelkonserven,
wenige persönliche Erinnerungsstücke und Geld in Koffer und Kisten,
gerade soviel wie eine Person tragen konnte.
Auf dem Leib trugen die Menschen Mäntel und warme Kleidungsstücke,
manchmal mehrere übereinander, da die Außen-temperaturen weit
unter dem Gefrierpunkt lagen.
Andere besaßen einen kleinen handgezogen Bollerwagen, der mit dem
Nötigsten für die Flucht beladen wurde.
Die erste Anlaufstelle für die flüchtenden Menschen waren die
Bahnhöfe. Man hoffte, dass die Reichsbahn genügend Waggons für
die flüchtenden Menschen bereit stellten würde.
Aus dem ganzen Umland flüchteten die Menschen in Richtung Mohrungen.
Hier hofften sie einen Platz in den bereitgestellten Zügen des Mohrunger
Bahnhofs zu finden.
Die Straßen der kleinen Stadt waren hoffnungslos überfüllt.
Tausende Menschen versuchten aus der Stadt zu fliehen – viele in Richtung
Bahnhof, denn die Menschen erfuhren, dass noch Züge zur Evakuierung
bereitstünden. Das Schicksal der Familie Lettau aus Mohrungen beschreibt
diese dramatische Situation sehr eindringlich:
„[...] Meine Mutter wurde dringend gemahnt, doch endlich zum Bahnhof
aufzubrechen. [...] Auf dem Bahnhof sollten Züge zur Evakuierung bereitgestellt
worden sein. [...] Der Bahnhof lag auf der entgegengesetzten Seite der Stadt.
Die mit uns ziehenden Nachbarn verloren wir im Gedränge der verstopften
Straßen. Die vielen Militärfahrzeuge, Pferdegespanne, der tiefe
Schnee und letztlich die Dunkelheit ließen uns nur schwer vorwärts
kommen. [...] Große Enttäuschung erfasste uns, als wir den Bahnhof
erreichten. Es waren wohl Tausende Menschen aus der Stadt und dem Kreisgebiet,
die an bereitstehende Züge geglaubt hatten. Nicht ein einziger Zug
stand zur Abfahrt in das Reichsgebiet bereit.
Trotz bitterer Kälte, es mögen minus 25 Grad gewesen sein, verharrten
die Menschen geduldig und ohne Hysterie stundenlang am Bahnhof. Vergeblich!“
Anderen Menschen gelang die Flucht mit einem Zug aus dem Mohrunger Bahnhof,
wenn auch nicht weniger dramatisch.
Der in vielen Berichten erwähnte Eisenbahnbergezug, der sich anstelle
des Evakuierungszuges im Bahnhof befand, war die letzte Rettung für
einige wenige Menschen.
Christa Gand gelangte so zum Beispiel mit Glück in einen überfüllten
Viehwaggon, wurde aber durch das Gedränge und die allgemeine Verwirrung
auf dem Bahnsteig von ihrer Mutter getrennt. So konnte nur die Tochter mit
der Bahn das von sowjetischen Truppen bedrohte Mohrungen am 22. Januar verlassen.
Solche Schicksale spielten sich alleine im Kreis Mohrungen hundertfach.
|
|
Abb.
10 Verladung von Flüchtlingen, Januar 1945 (Kreisgemeinschaft Mohrungen) |
ab. Ganze Familien verloren sich im Gedränge der überfüllten
Straßen oder Bahnhöfe.
Mit Glück fand man sich Jahre später wieder – viele andere
haben nie wieder ein Lebenszeichen von ihren Verwandten gehört.
Anderen Menschen gelang die Flucht mit Fahrzeugen. So liegt ein Bericht
einer Mohrungerin vor, die zusammen mit ihrer Mutter auf der Ladefläche
eines LKW die Stadt verlassen konnte. Eine seltene und vergleichsweise zuverlässige
Art der Fortbewegung: Das Fahrzeug besaß einen Holzgasgenerator.
Nachdem die kleine Gruppe Mohrungen verlassen konnte, schloss man sich den
nicht enden wollenden Flüchtlingstrecks an und versuchte, sich in sicheres
Gebiet zu begeben.
In diesem Fall sollte es Elbing sein. Obwohl man ein motorisiertes Fahrzeug
besaß, benötigten die Menschen neun Stunden für die 40 km
lange Strecke von Mohrungen nach Elbing. Nachdem sie mit einer Fähre
über die Weichsel setzen konnten, erreichten sie Danzig. Von dort aus
gelangten sie einen Tag später nach Lauenburg/Pommern.
Hier musste die Gruppe ihre Flucht mit der Bahn fortsetzen. Sie gelangten
über Stettin nach Berlin.
Die wenigsten Menschen hatten das Glück, eine so schnelle und vergleichsweise
„bequeme“ Flucht zu durchleben.
Viele mussten zu Fuß ihre Städte verlassen und erreichten erst
nach Wochen sicheres Gebiet.
So auch der Mohrunger Elektriker Erich Nitsch – er musste seine Familie
am 21. Januar alleine auf die Flucht schicken. Nitsch wurde zum Volkssturm
eingezogen und sollte Mohrungen bis zuletzt mit verteidigen.
Doch zu einer formellen Einberufung kam es anscheinend nicht mehr. Nitsch
erfuhr am 22. Januar, dass der Volkssturm aufgelöst wurde und er sich
ebenfalls absetzen konnte.
Er floh mit zwei kleinen Taschen und dem Nötigsten auf seinem Fahrrad
Richtung Wormditt (nördlich der Kreisgrenze). Dort fand er einen Zug,
der in Richtung Elbing fahren sollte, damit hätte er relativ schnell
sicheres Reichsgebiet erreichen können – doch der Zug sollte
sich nicht in Bewegung setzen.
Am 23. Januar wurde bekannt, dass am Wormditter Bahnhof ein weiterer Zug
bereitgestellt werden sollte – das Ziel war Königsberg, doch
dieses Ziel behagte Nitsch nicht. Er blieb noch einige Tage in Wormditt,
um sich dann, am 28. Januar, mit einer kleinen Gruppe in Richtung Frisches
Haff auf den Weg zu machen.
Nach 15 Kilometern über das zugefrorene und verschneite Haff erreichten
sie die Frische Nehrung. Von dort aus gelangte der Mohrunger mit einer Kleinbahn
nach Danzig. Leider wurde der Bericht nicht fortgesetzt, dennoch konnte
man in Erfahrung bringen, dass der Elektriker Nitsch sicher nach Leipzig
kam.
Mit dem Kampf um Mohrungen verbindet sich auch das Schicksal tausender Menschen,
denen es nicht mehr rechtzeitig gelang die Stadt zu verlassen. |
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Abb.11
Flucht über das zugefrorene Frische Haff, Jan./Feb. 1945 |
Am
22. Januar gegen 20:30 Uhr trafen die ersten sowjetischen T-34 Panzer in
der Stadt ein. Die ganze Nacht durch kam es zu heftigen Straßenkämpfen.
Die sowjetischen Stosstruppen wurden von Artillerie unterstützt, die
hauptsächlich zivile Ziele und damit unschuldige Opfer traf.
Im Laufe der Nacht wurde die Stadt von Osten her eingeschlossen.
Die verbliebene Stadtgarnison unternahm in der Nacht einen Ausbruch aus
der umlagerten Stadt. Ewa 60-70 Soldaten konnten sich mit einigen Flüchtlingen
absetzen. Die verbliebenen Menschen fielen den Sowjets in die Hände.
Der Kampf um Mohrungen endete am 23. Januar 1945 um 7:30 Uhr.
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7.3.
Die Flucht vom Land |
Die Flucht der Menschen vom Lande unterscheidet sich wesentlich von der
Flucht der Stadtbevölkerung. Hier gibt es einige wichtige Merkmale.
Wie schon in Kapitel 7.2. erwähnt, waren die Städte wichtige
strategische Ziele der Roten Armee. Auf dem Land gab es wenig, was es
für die Rote Armee lohnenswert machte, von ihrer Hauptangriffsrichtung
abzugehen.
Die ersten sowjetischen Panzertruppen, die am 21. Januar in das Kreisgebiet
eindrangen, stießen an den unbedeutenden Dörfern vorbei und
konzentrierten ihr Vorgehen auf die Verkehrsknotenpunkte des Kreises und
die damit verbundenen operativen strategischen Zielen.
Dadurch hatte die Landbevölkerung einige Tage länger Zeit, bevor
die Rote Armee in ihre Orte eindrang.
Trotz dieses „Zeitvorteils“ gestaltete sich die Flucht der
Land-bevölkerung schwerer, als die der Stadtbewohner.
Die wenigsten der kleineren Orte des Kreises besaßen einen direkten
Bahnanschluss.
Die Menschen mussten, wollten sie mit einem Evakuierungszug Ostpreußen
verlassen, erst einmal ihre Dörfer in Richtung einer größeren
Stadt verlassen. Anlaufpunkte waren dann Städte wie Saalfeld, Mohrungen
oder der Eisenbahnknotenpunkt Miswalde. Die Gefahr, auf dem Weg zu einem
Bahnhof von sowjetischen Truppen „überrollt“ zu werden,
war dementsprechend groß.
Die zum Teil sehr abgelegenen Güter und Höfe erfuhren erst bis
zu einen halben Tag später von der befohlenen Evakuierung des Kreises
als die Stadtbewohner. Obwohl auf dem Land Telefonanschlüsse vorhanden
waren, erreichte die von Parteifunktionären organisierte „Nachrichtenkette“
erst relativ spät die letzten Dörfer. Den Menschen blieb entsprechend
wenig Zeit, ihre Habe zu packen und sich auf die Flucht vor den Sowjets
zu begeben.
Nach vorsichtigen Schätzungen der vorliegenden Berichte kann davon
ausgegangen werden, dass die meisten Landbewohner entweder zu Fuß
oder mit einem Wagen über das Kreisstraßennetz geflohen sind.
Ein geringerer Teil konnte einen der wenigen Evakuierungszüge erreichen.
Die Menschen wurden auf unterschiedliche Art und Weise informiert: War
es bei dem einen der Ortsgruppenleiter109 der NSDAP, so wurden andere
durch ihren Gutsherrn informier In manchen Fällen blieb die Evakuierung
seitens der zuständigen Behörden sogar ganz aus, hier mussten
dann die dort stationierten Wehrmachtseinheiten tätig werden.
Entsprechend unterschiedlich fallen dann auch die Aufbruchszeiten der
Flüchtlinge aus. Im Falle des eigenständig handelnden Gutbesitzer
war dies deutlich früher als beim Parteifunktionär, der auf
Weisung seines entsprechenden Vorgesetzten warten musste.
Zum Glück für viele Menschen hielten sich die verantwortungsvollen
Gutsbesitzer nicht an das offizielle Fluchtverbot – die immer näherkommenden
Artilleriegeräusche der sowjetischen Truppen waren für sie Zeichen
genug, ihre Leute auf die Flucht zu schicken.
Doch nicht alle Menschen wollten sich auf den Weg machen.
Oftmals waren es ältere Menschen, die ihre Heimat nicht verlassen
wollten. Sie entschieden sich, dort zu bleiben
Andere wiederum wählten keinen dieser beiden Wege, sie trafen die
für sie folgenschwerste Entscheidung: Sie schieden freiwillig aus
dem Leben.
Im Kreis Mohrungen wählten insgesamt 116 Menschen den Freitod.
113 Die Menschen, die diesen Weg wählten, kamen aus keiner homogenen
Gruppe.
Wir finden unter ihnen alte Menschen, Gutsbesitzer, Parteifunktionäre,
Beamte, aber auch ganz durchschnittliche Menschen, die in manchen Fällen
mit ihrer ganzen Familie den Freitod wählten.
Könnte man im Falle des Parteifunktionärs noch seine Tat nachvollziehen,
schließlich drohten ihm im Falle der Gefangennahme durch die Rote
Armee schlimmste Repressalien, so ist doch der Freitod ganzer Familien
schwer zu verstehen.
In jedem Fall hat die Propaganda der Nationalsozialisten, aber auch das
unmittelbar Erlebte durch die näher rückenden sowjetischen Truppen
dazu beigetragen, dass die Menschen in ihrer Angst diesen Weg wählten.
In einem Bericht von Helga Gonner wird das gesamte Ausmaß der Tragödie
deutlich:
„Schon bevor die Russen in unser Dorf kamen, verloren einige Dorfbewohner
aus Angst vor den zu erwartenden Repressalien die Nerven und wählten
den Freitod. Die junge Frau Kirsch (Ruth) kam zu Frau Satzkowski und teilte
ihr mit, dass sie ihr Baby getötet hätte. Frau S. entschloss
sich daraufhin mit ihren Kindern ebenfalls aus dem Leben zu scheiden.
Sie betäubte ihre beiden Jüngsten, Ulrike und Clara mit Schlaftabletten
und nahm ihnen das Leben. Ihr Ältester, Hans-Jürgen, erschoss
sich und Erna Friese, das Hausmädchen. Ein Versuch von Frau S., Ilse,
der Zweitältesten, die Pulsadern zu öffnen, misslang. Deshalb
blieben Mutter und Tochter am Leben.
Bauer Jertlowski ging mit seiner Frau und zwei Töchtern aufs Feld
[...] und hat dort ebenfalls allen die Pulsadern geöffnet. Man fand
sie später tot im Schnee sitzend bis auf Erna, die Jüngste,
die noch lebte. Sie hatte zu dem starken Blutverlust noch starke Erfrierungen.
Ein russischer Arzt hat ihr die Arme amputiert und ihr damit das Leben
gerettet.
Ähnlich wie der Stadtbevölkerung blieb auch den Landbewohnern
nur sehr wenig Zeit zum Packen ihrer Habe.
Der Umfang der eingepackten Gegenstände unterschied sich deutlich
von der mitgeführten Habe der Stadtbewohner. Durch die weit verbreitete
Landwirtschaft im Kreis Mohrungen standen den Menschen zahlreiche Leiterwagen
zur Verfügung. Auf die Wagen passten deutlich mehr Gegenstände
als auf die kleinen Bollerwagen oder Handschlitten der Stadtbewohner –
ganz zu schweigen vom Handgepäck vieler Flüchtlinge.
Die Leiterwagen wurden mit Pferden bespannt, die zu diesem Zeitpunkt noch
sehr häufig Verwendung gefunden haben.
In manchen Fällen belud eine Familie zwei und mehr Wagen, auf denen
allerhand Hausrat gepackt wurde. Diese Familientrecks schlossen sich dann
anderen Wagen im Dorf an und zogen gemeinsam in eine vermeintlich sichere
Richtung.116
Größere Landgüter stellten gar eigene Trecks in der Größenordnung
von bis zu 33 Wagen zusammen.
Konnten die Menschen die lebensnotwendigsten Sachen aufladen, so mussten
sie doch neben ihrem Heim einen weiteren wichtigen Bestandteil ihres täglichen
Lebens zurücklassen: das Vieh.
Die nordostpreußischen Flüchtlinge konnten im Herbst 1944 noch
große Viehherden mit sich führen; nun bestand keine Möglichkeit,
die Tiere mitzuführen, bedingt durch den plötzlichen Aufbruch,
das kalte Klima und die schiere Überfüllung der Straßen.
Den Gutsbesitzern und kleineren Landwirten blieb nichts anderes übrig,
als die Tiere in den Ställen loszumachen Die Rinder, Schweine und
Schafe konnten so, nachdem das Futter im Stall aufgebraucht war, in der
Natur nach Nahrung suchen. Viele Landwirte zögerten zu lange, diesen
Schritt in die Tat umzusetzen, eine Flucht wurde für sie dadurch
nicht mehr möglich.118 Die Verbundenheit mit ihrem Vieh war so groß,
dass sie es vorzogen, lieber in die Hände der Roten Armee zu fallen,
als ihre Tiere im Stich zu lassen.
Einzig die Pferde, die noch nicht von der Wehrmacht requiriert wurden,
nahmen die Menschen mit auf die Flucht – sie sollten in den nächsten
Wochen das Wichtigste sein, was ihnen geblieben war und so die Flucht
ermöglichten. Die kräftigen Tiere mühten sich tagelang
meist pausenlos auf den vereisten Straßen mit den schweren Leiter-
oder Kastenwagen ab.
Das folgende Beispiel der Flucht eines Großtrecks muss nicht unbedingt
als typisch für die Flucht der Bevölkerung aus dem Kreis Mohrungen
gesehen werden, dennoch wird hier sehr deutlich, wie durch gute Organisation,
Kenntnis der Landschaft, aber auch eine gute Portion Glück die Flucht
gelingen konnte.
Leider liegen uns für den Bericht keine Namen der Hauptbeteiligten
vor, daher müssen wir uns mit den vorhandenen Angaben begnügen.
Am 21. Januar abends um 18 Uhr wurde das Gut Prökelwitz von dem zuständigen
NSDAP-Ortsgruppenleiter informiert, dass alle Vorbe-reitungen für
die Evakuierung zu treffen seien. Am frühen Morgen des 23. Januars
standen drei Leiterwagen mit dem Hab und Gut ebenso vieler Familien bereit.
In der Nähe von Christburg war der Treck mit insgesamt 33 Wagen vollzählig.
Die Leitung der Trecks übernahm Fürst Alexander v. Dohna-Schlobitten,
der im Bericht aber einfach nur „Fürst“ genannt wird.
Bereits am 23. Januar konnte der Treck die Nogatbrücküberqueren
und damit ein wichtiges Etappenziel der Flucht erreichen.
Die Flucht führte den Treck weiter durch Pommern.
Hier übernachteten die Flüchtlinge meistens in Schulen oder
öffentlichen Gebäuden. Die Versorgung der Menschen übernahmen
entweder die lokalen Reichsbauernführer, die NS-Frauenschaft oder
in einigen Fällen auch das Deutsche Rote Kreuz.
Durch die guten Kontakte des Treckführers, des „Fürsten“,
konnte bei der Durchquerung Pommerns immer wieder auf einigen Gutshöfen
übernachtet werden. Hier wurden den insgesamt 250 Flüchtlingen
ein gutes Quartier und auch eine reichhaltige Verpflegung geboten.
Während
der Flucht wurde der Treck öfters von Feldgendarmerie zum Anhalten
gezwungen. Sie sperrten wichtige Straßen für die Wehrmacht
ab, damit diese die Front schneller erreichen oder auch im Bedarfsfall
schneller verlassen konnte.
Nach fast einwöchigem Zwischenstopp konnte der Treck seinen Weg am
7. Februar fortsetzen.
Solche unverhofften Unterbrechungen der Flucht waren für die betroffenen
Menschen sehr gefährlich – es bestand ständig die Gefahr
von den herannahenden Panzerspitzen der Roten Armee überrollte zu
werden. Mit viel Glück, aber auch durch die Kenntnisse und Beziehungen
des Treckführers konnte Pommern nach fast einem Monat hinter sich
gelassen werden.
Erst am 20. Februar erhielt der Treck in Prenzlau einen offiziellen Treckbefehl,
der den weiteren Weg der Flüchtlingen bestimmen sollte.
Fortan waren die Einquartierungen und die Versorgung durch NSDAP-Organe
vorgeplant, ab hier scheint sich auch die Stimmung bei den Flüchtlingen
zu verschlechtern, denn die Organisation schien nicht mehr so reibungslos
zu funktionieren wie noch unter dem Regiment des „Fürsten“.
Am 1. März überquerte der zwischenzeitlich um 25 Wagen angewachsene
Treck die Elbe bei Dömitz. Von dort aus sollten die Flüchtlinge
über Dannenberg nach Lüneburg geleitet werden. Hier wurde der
Treck zum ersten Mal getrennt. Die letzten Teile des Trecks sollte einige
Tage später, am 19. März, fast zwei Monate nach Beginn der Flucht,
bei Soltau aufgelöst werden. Dort wurden die Menschen auf insgesamt
21 Ortschaften verteilt
Der Bericht erwähnt „nur“ zweimal Todesfälle und
keine Angriffe der Roten Armee. Dies kann sicherlich als eine besondere
Ausnahme betrachtet werden, denn die meisten anderen Berichte erwähnen
häufige Übergriffe sowjetischer Einheiten, dies war fast immer
mit einer großen Zahl von Todesopfern verbunden.
Der Prökelwitzer Treck hatte sicherlich in dieser Hinsicht großes
Glück, obwohl auch seine Teilnehmer große persönliche
Opfer erbringen mussten. Nach dem Verlust ihrer Heimat und ihres Besitzes
wurde die Ortsgemeinschaft nach einer langen entbehrungsreichen Flucht
regelrecht auseinandergerissen und auf halb Norddeutschland verteilt und
verlor so auch einen großen Teil ihrer sozialen Kontakte.
Die Flucht anderer Trecks sollte sich wesentlich problematischer abspielen.
Durch die schwierigen Straßenverhältnisse in den ersten Tagen
der Flucht wurde das Material sehr stark beansprucht. Pannen oder gar
Komplettausfälle an den bespannten Leiterwagen konnte für viele
Menschen das Ende ihrer Flucht bedeuten. In der allgemeinen Panik dachten
die Flüchtlinge nicht daran, sich Ersatz zu beschaffen und Reparaturmöglichkeiten
gab es natürlich auch keine mehr, da sich die Stellmacher ebenfalls
auf der Flucht befanden.
Das Glatteis trug auch dazu bei, dass viele der völlig überladenen
Leiterwagen verunglückten. Einmal umgekippt, bestand kaum mehr die
Möglichkeit, das Gefährt wieder aufzurichten, da die Straßen
derart überfüllt waren, dass kein Platz für solche Manövriertätigkeiten
vorhanden war.
Den Menschen blieb also nichts weiter übrig, als ihre Flucht zu Fuß
fortzusetzen.
Andere Flüchtlinge nutzten die schlechte Straßenbedingungen
zu ihrem Vorteil aus. In der oft tief verschneiten ostpreußischen
Landschaft waren bespannte Schlitten durchaus verbreitet, sie konnten
sehr gut über die vereisten Wege gleiten. Auf solchen Schlitten war
zwar lange nicht so viel Platz vorhanden wie auf den großen Leiterwagen,
dafür hatten diese Fahrzeuge den großen Vorteil, relativ klein
und wendig zu sein und so entsprechend schneller voranzukommen.
Doch mit den zunehmend stärker befahrenen Straßen sollte sich
die Schneedecke dermaßen verändern, dass eine Weiterfahrt mit
dem Pferdeschlitten immer schwieriger wurde
Der nachfolgende Bericht einer solche Fahrt zeigt die Schwierigkeiten,
die bei der Flucht auftreten konnten.
„Von Marienburg aus fuhren wir am nächsten Morgen weiter über
die Nogatbrücke. Hier wurde die Straße immer schlechter. In
Kalthof blieben wir einfach liegen. Wir brauchten jetzt wieder einen Wagen.
Ein Offizier sagte: In 10 Minuten weiter oder Sie werden in den Straßengraben
gekippt – die Straße muss frei bleiben.’
Schwester Emma sagte:"Gib mir genügend Zigaretten und Alkoholika,
ich versuche für dich und mich je einen Wagen zu bekommen.’
So geschah es auch – wir mussten nur viel liegen lassen. Die nächste
20-Stunden-Fahrt durch die Niederung und über die große Weichselbrücke
war eine so große Strapaze für Pferde und Menschen, dass es
sich gar nicht beschreiben lässt.
Nachts hatten wir mindestens 20 Grad Frost.
Geretteter Alkohol half uns vor dem Erfrieren. Ununterbrochen rollten
zwei, zuweilen drei Reihen Trecks, dazu eine Reihe Militär, Panzer,
Gefangene und Remonten aus der Provinz Ostpreußen heraus und eine
Reihe hauptsächlich Militärs auch noch wieder zurück.[...]
Auf der Weichselbrücke (hier auch 4 Reihen!) blieb unser Wagen stehen.
Glücklicherweise hatten wir Werkzeug und Wagenschmiere mit.
Dank von Zigaretten halfen uns Soldaten beim Radwechsel und Abschmieren.“
Der Bericht beschreibt deutlich das vorhandene Chaos auf den Straßen
in Richtung Westen. Gerade bei den wichtigen Verkehrspunkten wie der Nogat-
oder Weichselbrücke kam es zu besonders großen Stauungen.
Die Militärpolizei sorgte für einen mehr oder weniger reibungslosen
Ablauf.
Fahrzeuge, die ausfielen, wurden so schnell wie möglich aus dem Weg
geräumt, um eine weitere Stauung zu vermeiden.
Selten konnten die Menschen mit Organisationstalent, wie im gerade gezeigten
Fall, dieses Schicksal umgehen.
Die im Bericht erwähnten Wehrmachtskonvois sorgten durch ihren Vorrang
bei der Überquerung natürlicher Hindernisse für zusätzliche
Verzögerung bei der Flucht aus Ostpreußen.
Neue Kampftruppen, die zur Front hineilten, behinderten sich gegenseitig
mit den sich von der Front zurückziehenden Truppen. Die ständig
näherrückende Front sorgte für zusätzliche Angst bei
den Menschen, nicht mehr rechtzeitig das sichere Ufer zu erreichen –
in solchen Fällen machte sich oft Panik breit.
Doch solange die Brücken in deutscher Hand waren, konnten die Flüchtlinge
Ostpreußen in Richtung Pommern verlassen, dort mussten sie so schnell
wie möglich die Oderbrücken erreichen.
Die Gefahr bestand auch hier, von den Panzerspitzen der Roten Armee eingeholt
zu werden, die sie dort von Süden her bedrohten (siehe Abb. 5). Die
Situation wurde erst verheerend, als am 26. Januar 1945 den sowjetischen
Truppen die endgültige Umklammerung Ostpreußens bei Elbing
gelang.
Das offizielle Kriegstagebuch des OKW verschweigt diese Tatsache vollkommen,
stattdessen findet man hier die kurze Erwähnung eines sowjetischen
Panzervorstoßes auf Elbing (29. Januar 1945)
Nach der Einschließung Ostpreußens konnten die Flüchtlinge
nur noch über das zugefrorene Haff die Hafenstadt Pillau erreichen
und auf eine Evakuierung über See hoffen (siehe Kapitel 6.3).
Trotz aller Hindernisse und Gefahren erreichte ein großer Teil der
Flüchtlinge aus dem Kreis Mohrungen das sicherere Reichsgebiet.
Für den Kreis Mohrungen kann abschließend zusammengefasst werden,
dass die Menschen, die den Fluchtweg in Richtung Frisches Haff wählten
(und damit eine Evakuierung über den Seeweg), eine größere
Chance auf eine erfolgreiche Flucht hatten.
Die Flüchtlinge, die über Elbing auf dem Landweg fliehen wollten,
sind zu einem großen Teil von der Roten Armee eingeholt worden.
Die Flucht mit der Eisenbahn brachte zwar auch große Gefahren mit
sich, war aber letztlich für die vergleichsweise Wenigen, die mit
ihr fliehen konnten, erfolgreicher.
Die meisten Flüchtlinge, die ihre Flucht erfolgreich abschließen
konnten, haben keinen Kontakt mit der Roten Armee gehabt und berichten
auch demnach nicht von den Gräueltaten an der Zivilbevölkerung.
Die Flüchtlinge wurden häufig von Flugzeugen der Roten Armee
beschossen, hier kam es auch zu zahlreichen Opfern auf deutscher Seite.
Für diese Übergriffe finden sich in den Quellen der Kreisgemeinschaft
Mohrungen keine Berichte, was allerdings nicht heißen soll, dass
sie nicht zahlreich vorgefallen wären.
Ein weitaus schwereres Los hatten die Menschen zu ertragen, denen die
Flucht nicht gelang. Über ihr Schicksal soll im folgenden berichtet
werden.
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|
7.4
Die missglückte Flucht – Leiden unter der Roten Armee |
Die Situation im Kreis Mohrungen wurde mit dem schnelleren Vorrücken
der Roten Armee immer dramatischer. Die Menschen, die nicht frühzeitig
genug zu Evakuierung aufgefordert wurden, hatten es mit voranschreitender
Zeit immer schwerer, rechzeitig das Kreisgebiet zu verlassen. Tausende Menschen
wurden im Kreisgebiet oder unmittelbar danach von der Roten Armee einholt.
Eine weitere Flucht war so nicht mehr möglich. Den Menschen blieb nichts
anderes übrig, als sich an dem Ort, wo sie durch die Sowjets aufgehalten
wurden, niederzulassen.
So zum Beispiel im Falle Erna Wittek aus Auer. Hier ordnete der Bürgermeister
erst am 21. Januar 1945 um 22:30 Uhr die Evakuierung an.
Den Einwohnern aus Auer blieb entsprechend wenig Zeit, ihre Habe zu packen.
Erst spät am Morgen des 22. Januar begann die Flucht.
Die Straßen waren nun noch verstopfter als einige Stunden zuvor. Immer
wieder mussten die Flüchtlinge ausweichen, um den Wehrmachtseinheiten,
die in Richtung Saalfeld eilten, Platz zu machen. Wenige Kilometer westlich
von Saalfeld wurde der Treck von russischen Panzern eingeholt.
Der erste Kontakt mit sowjetischen Soldaten, den Erna Wittek beschreibt,
ist symptomatisch für das Verhalten der ersten Kampftruppen der Roten
Armee.In fast allen Berichten spielten sich folgenden Szenen ab:
„Als es hell wurde, hielt ein Panzer an und sechs Mann kamen mit Poltern
ins Haus und schlugen mit den Gewehren die Türen des Zimmers ein, in
dem wir saßen. Ich stand am Bett mit dem Rücken zu den Soldaten,
vor Angst zitternd und ich wollte nicht sehen, wie sie mich oder die anderen
erschießen.
An ein Überleben glaubte ich nicht, sie nahmen nun allen die Uhren
ab und da der Strom schon längst unterbrochen war, musste meine Mutter
vom Boden bis zum Keller mitgehen. Sie suchten nach deutschen Soldaten,
auch wir wurden alle nach Waffen untersucht.
Die Laterne nahmen sie mit, ich wollte meine Uhr nicht geben, aber sie wurde
mir entrissen. Das war die erste Begegnung mit dem Feind. Wir blieben alle
am Leben, damit hatten wir gar nicht gerechnet."
Auffallend häufig entrissen die sowjetischen Frontkämpfern den
Flüchtlingen Schmuckgegenstände und Uhren. Allein in den vorliegenden
Berichten aus dem Kreis Mohrungen wird diese Prozedur mindestens fünfmal
erwähnt.
Es ist anzunehmen, dass die Soldaten diese wertvollen und leicht zu transportierenden
Gegenstände als „Souvenirs“ oder als leicht tauschbare
Güter an sich nahmen.
Doch nicht alle Begegnungen mit den Soldaten verliefen so ungefährlich.
Bei Erna Wittek lesen wir weiter:
„Einige Soldaten kamen wieder rein, suchten alles durch und taten
uns nichts, bis mich einer ausziehen wollte. Da fing ich an zu weinen, er
ließ von mir ab und ging auf die Straße, griff sich ein anderes
Mädchen und ging mit ihr in die Scheune. [...] Draußen wurde
in allen Richtungen geschossen, Gebäude niedergebrannt, Frauen und
Mädchen vergewaltigt, wer sich wehrte wurde erschossen, wer weglief
auch, wir sahen viele Tote und wussten eben nicht, wie lange wir noch leben
würden."
Berichte dieser Art gibt es leider sehr zahlreich.
Dort wo die Rote Armee auf deutsche Flüchtlinge traf, wurde vergewaltigt,
gemordet und geplündert. Ausnahmen gibt es wenige. Zwar beteiligten
sich nicht alle sowjetischen Soldaten an den gewaltsamen Übergriffen,
doch die Zahl derer, die mitmachte, reichte aus, um tausendfaches Leid und
Schande zu verbreiten.
Nach den vorliegenden Berichten muss davon ausgegangen werden, dass die
Vergewaltigungen und Übergriffe der sowjetischen Truppen systematisch
durchgeführt wurden. Zwar liegen keine Befehle höherer sowjetischer
Militärdienstellen vor, die Gräueltaten durchzuführen, doch
wurden diese sicherlich mit Tolerierung vieler Vorgesetzten durchgeführt.
Manche Übergriffe waren von derartiger Brutalität, dass man schon
von einem Blutrausch gewisser sowjetischer Soldaten sprechen muss.
In vielen Berichten wird geschildert, wie die deutschen Flüchtlinge
wahllos umgebracht wurden. Hierbei wurde kein Unterschied von Alter oder
Geschlecht gemacht. Alleine schon derjenige der sich versteckte, konnte
von den Soldaten als mutmaßlicher Soldat oder Untergrundkämpfer
erschossen werden.
Nachdem den Flüchtlingen ihre Wertgegenstände von russischen Soldaten
genommen wurden, requirierten die nachrückenden sowjetischen Versorgungstruppen
die noch verbliebenen Zugpferde.
Eine Flucht war nun nicht mehr möglich, abgeschnitten von der Roten
Armee und ihrer Zugpferde beraubt, blieb den Menschen nichts anderes übrig,
als zu warten.
Die Trecks wurden einige Tage nach dem ersten Kontakt mit der sowjetischen
Armee aufgelöst. Die Menschen blieben in den Orten, in denen sie aufgehalten
wurden, oder zogen meist ohne ihren Wagen in ihre Heimatdörfer zurück.
Dort erwartete die Menschen ihr nächstes Martyrium.
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|
8.
Vertreibung der verbliebenen Bevölkerung aus dem Kreis Mohrungen
1945-47 |
Die Besetzung des Kreises durch die Rote Armee fand unmittelbar nach deren
Einmarsch im Januar 1945 statt. Nach vorsichtigen Schätzungen befanden
sich von den ursprünglich ca. 56.000 Kreisbewohnern noch ca. 20.000
Menschen auf dem Kreisgebiet nach dem Einmarsch der sowjetischen Armee,
hinzu kamen noch ca.
20 bis 30.000 Flüchtlinge aus anderen ostpreußischen Kreisen.
Das Schicksal dieser Menschen soll auf den folgenden Seiten näher beschrieben
werden. Der Zwangsarbeit, zu der die Deutschen herangezogen wurden, wird
in Kapitel 9. der gebührende Rahmen eingeräumt.
|
8.1.
Leben unter den Sowjets und Polen |
Nach der Rückkehr der Flüchtlinge auf die eigenen oder fremden
Höfe ging das Morden und Brandschatzen noch einige Zeit weiter. Die
Lage verbesserte sich erst ein wenig, als die Fronttruppen weiter in Richtung
Westen zogen. Die nachrückenden Etappeneinheiten zeichneten sich zwar
nicht durch gar so hemmungslose Übergriffe aus, waren aber dennoch
sehr grob und brutal gegenüber der Zivilbevölkerung. Die Vergewaltigungen
der weiblichen Bevölkerung wie die körperliche Züchtigung
der männlichen Bevölkerung sollte noch monatelang zur Tagesordnung
gehören.
Die sowjetische Militärführung sah sich gezwungen, nachts bewaffnete
Streifen auf Patrouille zu schicken, um die Zivilbevölkerung vor Übergriffen
von Soldaten zu schützen. Den sowjetischen Soldaten war es demnach
verboten, nachts Waffen zu tragen.
Die sowjetische Heeresleitung ging bereits während der fortschrei-tenden
Kampfhandlungen in Ostpreußen (Belagerung von Königsberg) im
Februar/März 1945 daran, eine Militärverwaltung zu etablieren.
Offiziell versuchte sie so schnell wie möglich, durch ständige
militärische Präsenz der Anarchie vorzubeugen. Fakt ist aber,
dass durch die sowjetischen Einheiten selbige ausgeübt wurde.
Russische Soldaten konnten sich an Mensch, Vieh und Besitz bedienen, wie
es ihnen beliebte.
Bereits Anfang Februar trieben die Sowjets die Tausende, frei umherlaufenden
Rinder ein, um sie dann auf, für das Militär beschlagnahmten,
Höfen zu halten.
Von dort aus sollten die kämpfenden Truppen mit Fleisch versorgt werden.
Ähnlich wurde auch mit den Lebensmittelvorräten verfahren. Die
hungerleidende Bevölkerung konnte sich nur durch wenige versteckte
Lebensmittel ernähren. Die sowjetische Militärverwaltung sorgte
in den ersten Wochen und Monaten nicht für die Verpflegung der Zivilbevölkerung,
ihr Bestreben war es eher, den Menschen das Wenige abzunehmen.
Sobald es die Wetterlage ab März 1945 zuließ, gingen die Menschen
daran, auf Teilen ihres oder des durch sie zeitweise bewohnten Landes Feldfrüchte
wie Kartoffeln, Rüben oder Getreide anzubauen. Aus Mangel an Saatgut
und der Angst vor der Requirierung der Feldfrüchte bebauten die Menschen
nur kleine, versteckte Felder.
Große Teile des fruchtbaren Landes lagen 1945 brach.
Die Feldarbeit erwies sich als sehr schwierig, da Zugpferde und –ochsen
von den Sowjets bereits im Winter beschlagnahmt wurden, alle Arbeiten, ob
Pflügen, Ernten oder Abtransport der Ernte, musste mit menschlicher
Körperkraft bewältigt werden. Durch die mangelhafte Ernährung
und die schlechten hygienischen Verhältnisse verbreiteten sich schon
bald Seuchen wie Typhus und Cholera. Helga Gonner aus Hagenau berichtet
über die hygienischen Bedingungen:
„ Dass sich Krankheiten einstellen mussten, war unausbleiblich, denn
überall waren inzwischen Ratten. [...] Ich bekam, wie schon viele vor
mir im Dorf, Typhus und war ein dreiviertel Jahr lang sehr krank. Oftmals
hat uns meine ausgemergelte Gestalt im Bett vor den Russen gerettet. Sobald
wir ‚Typhus’ sagten, verschwanden sie wieder. [...] Die meisten
Erkrankten starben an dieser Seuche, da es keinerlei ärztliche Versorgung
gab. Im Mohrunger Krankenhaus arbeiteten deutsche Ärzte für die
Russen. Frau Satzkowski war meinetwegen in Mohrungen bei einer solchen Ärztin,
die ihr jedoch sagte, dass alle deutschen Kranken, die dort nicht einmal
in den Zimmern liegen durften, kaum ärztlich und mit keinerlei Medikamenten
versorgt würden.“141
Unzählige Menschen sind alleine im Kreis Mohrungen an Erschöpfung,
Unterernährung oder Seuchen gestorben – die genaue Anzahl bleibt
bis heute ungewiss.
Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges sollte sich die Situation für
die deutsche Zivilbevölkerung kurzfristig verbessern. Die sowjetischen
Soldaten waren in Siegeslaune. In einem Fall wird davon berichtet, dass
die sowjetischen Soldaten die weiblichen, deutschen Zwangsarbeiter zu einer
Feier einluden.
Die Stimmung war zwar relativ angespannt, schließlich hatten die Frauen
Angst, vergewaltigt zu werden, sie lockerte sich aber im Laufe der Veranstaltung.
Die Russen zeigten sich zum erstenmal seit Monaten als zivilisierte Männer
und gute Gastgeber.
Dieses Verhalten war sicher nicht die Regel, zeigt aber doch, dass sich
mit dem Ende des Krieges die Spannung ein wenig legte.
Im Sommer 1945 sollte sich das Blatt wieder wenden. Grund für diese
Wende waren die Beschlüsse von Jalta und der Potsdamer Konferenz (siehe
Kapitel 10.2).
Die sowjetischen Soldaten zogen vertragsgemäß ab und überließen
die Städte und Dörfer in Ostpreußen der neuen polnischen
Verwaltung. Der Abzug fand im Kreis Mohrungen über einen langen Zeitraum
statt. Die ersten Einheiten verließen den Kreis schon im Juni 1945
(Königsdorf nördlich von Mohrungen)143, andere erst im August
(Horn südlich des Narien Sees)144 oder mancherorts erst im Oktober
1945 (Bagnitten am Röthloff See).
Die sowjetischen Soldaten versäumten es nicht, vor ihrem Abzug die
wenigen Maschinen und industriellen Einrichtungen des Kreises zu demontieren.
In der Hauptsache dürfte es sich dabei wohl um Zugmaschinen, Werkzeugmaschinen
oder ähnliches gehandelt haben. Die vielleicht für die Infrastruktur
des Kreises einschneidendste Veränderung war die Teildemontage des
Schienennetzes. Hierbei wurden hauptsächlich Nebenstrecken und Privatschienen
entfernt.
Mit dem Einzug der neuen polnischen Besatzungsmacht sollte ein noch härteres
Regime für die Menschen im Kreis Mohrungen einziehen. Nach zahlreichen
Berichten schienen die Polen die verbliebene deutsche Bevölkerung mit
besonderer Verachtung und Grausamkeit zu behandeln.
Der polnischen Verwaltung war es zu diesem Zeitpunkt bekannt, dass es kein
dauerhaftes Zusammenleben mit der deutschen Bevölkerung geben würde
– entsprechend rücksichtslos wurde im Umgang mit ihr verfahren.
Bereits vor der Verwaltungsübernahme der Polen im Sommer 1945 gelangten
im März/April 1945 die ersten polnischen Familien in den Kreis Mohrungen.
Die Polen begannen damit, das Werk der sowjetischen Soldaten fortzusetzen,
indem sie der Bevölkerung die letzten Tiere und Wertgegenstände
nahmen.
Hierbei müssen die Polen, laut den Berichten der betroffenen Deutschen,
besonders rücksichtslos vorgegangen sein. Hauseinrichtung wurde hierbei
ziel- und wahllos zerstört, oftmals wurden ganze Höfe niedergebrannt.
Die vandalisierenden Polen wollten auf diese Weise der deutschen Bevölkerung
wohl ummissverständlich zeigen, wie wenig sie in Ostpreußen noch
willkommen waren. Nachdenklich stimmt bloß die Tatsache, dass die
Polen zu diesem Zeitpunkt schon wissen mussten, dass der deutschen Bevölkerung
die Vertreibung bevorstand. Die Zerstörung von Häusern und Höfen
scheint aus diesem Grund sehr sinnlos, da sie doch später von Polen
hätten bewohnt werden können.
Doch mit solchen Taten schufen die Polen Tatsachen, die später kaum
mehr rückgängig zu machen waren. Ziel war es, in einem kurzen
Zeitraum so viele Polen wie möglich in den besetzten Gebieten anzusiedeln.
Die Ansiedlung der polnischen Bevölkerung schien ziemlich planlos vonstatten
zu gehen. Die ersten eintreffenden polnischen Trecks stammten zum größten
Teil aus den Armutsvierteln polnischer Großstädte.
Diese Menschen verstanden naturgemäß sehr wenig von Landwirtschaft,
was eine Ansiedlung im Kreis Mohrungen nur sehr schwer nachvollziehbar macht.
Die so von den Polen, nach der Vertreibung der verbliebenen deutschen Bevölkerung,
übernommenen Höfen verkamen sehr schnell.
Andere Polen ließen die ursprünglichen deutschen Hofbesitzer
für sich arbeiten, so konnten sie, trotz mangelnder Kenntnisse, gute
Ernteergebnisse erwirtschaften.
An manchen Orten wurden durch die zusammengetriebenen Kuhherden regelrechte
Milchfabriken eingerichtet, auf denen viele Deutsche zur Zwangsarbeit eingesetzt
wurden.
Brutale Übergriffe der Polen auf die verbliebene deutsche Bevölkerung
fanden weiterhin statt.
Die in den meisten Orten eingerichtete polnische Verwaltung sollte mit Hilfe
der zur Wahrung von Ruhe und Ordnung aufgestellten polnischen Miliz solche
Übergriffe verhindern.
Doch in den meisten Fällen vertrat die Miliz nur die polnischen Interessen.
Der deutschen Bevölkerung sollte das Schlimmste jedoch noch bevorstehen.
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|
8.2.
Die Vertreibung |
Bereits im September 1945 waren im Kreisgebiet Gerüchte zu hören,
dass die verbliebenen Deutschen vertrieben werden sollten. Doch die Deutschen
konnten sich dies nur sehr schwer vorstellen, wie sollten die Polen ohne
sie die Felder bewirtschaften und die Tiere versorgen?
Doch die Kreisbewohner konnten nicht wissen, dass ihr Schicksal schon vor
langer Zeit beschlossen worden war.
Im Gegensatz zu den bisherigen schlecht organisierten Aktionen der polnischen
Verwaltung sollte die Vertreibung gut vorbereitet sein. Im gesamten Kreisgebiet
erging Anfang November 1945 Order an alle Kommandanturen, die Vertreibung
der deutschen Bevölkerung vorzu-bereiten. Zwischen dem 5. und 30. November
sollten die meisten Deutschen aus dem Kreisgebiet vertrieben werden.
Die Vertreibung verlief in fast allen Kreisteilen parallel und fast identisch
ab. Am Vorabend der Vertreibung wurde die Ausweisung der Deutschen durch
den polnischen Bürgermeister bekannt gegeben.
Die deutschen Einwohner wurden aufgefordert, sich am nächsten Tag an
einem bestimmten Punkt im Ort zu versammeln.157 Hier wurde der wenige noch
verbliebene Besitz der Deutschen von den ortsansässigen Polen geplündert.
Von besonderem Interesse waren Wertgegenstände, Geld oder warme Winterkleidung.
Nach der Ausplünderung durch die Polen wurden die Menschen zu Sammelpunkten
getrieben, um von dort aus in größeren Gruppen nach Mohrungen
geschickt zu werden. |
|
Abb.
12 Bekanntmachung der bevorstehenden Vertreibung der deutschen Bevölkerung
(De Zayas S. 126) Leider sind keine Bekanntmachungen aus dem Kreis Mohrungen
zu finden. Die Anschläge aus dem Kreis Mohrungen ähnelten aber
sicherlich dem hier abgebildeten Faksimile aus Allenstein. |
Die meisten Deutschen mussten diese Entfernung zu Fuß zurücklegen
– viele kamen hierbei ums Leben, ihre Körper wurden einfach
am Straßenrand liegen gelassen.
Nach der Ankunft in Mohrungen wurden die Personen wieder in Sammellager
gebracht. Im Laufe der nächsten Nacht wurde die heimliche Verlegung
zum Bahnhof durchgeführt.
Die polnische Miliz vermied das Tageslicht, um diese unmenschlichen Szenen
vor den Blicken der neuen Einwohner in Mohrungen zu verbergen. Man befürchtete
Mitgefühl für die Deutschen und konnte keine unnötigen
Augenzeugen der Vertreibung gebrauchen.
Am Güterbahnhof von Mohrungen spielten sich schrecklichen Szenen
ab, ähnlich den Transporten von Juden und anderer Verfolgter in die
KZ Polens und der Ukraine.
Zwischen dem 10. und 17. November 1945 muss wohl täglich ein bis
zu 50 Waggons zählender Zug bereitgestanden haben.
Es handelte sich hierbei zum größten Teil um geschlossene Viehwagen
der Reichsbahn. In jeden dieser Waggons wurden zwischen 90 und 120 Menschen
gepfercht.
Damit fasste ein solcher Zug mindestens 5000 Vertriebene aus dem Kreis
Mohrungen.
Den Menschen blieb in den nur spärlich mit Stroh ausgestatteten Waggons
kaum Platz zum Sitzen. In den Wagen hatten die Menschen keinerlei sanitären
Einrichtung.
Da der Zug kaum anhielt, mussten die Menschen ihre Notdurft im geschlossenen
Waggon verrichten – die hygienische Situation war entsprechend katastrophal.
Die Zugfahrt führte in allen berichteten Fällen über Deutsch-Eylau,
Thorn und Schneidemühl (Pommern), von dort fuhren die Züge entweder
in Richtung Berlin oder Mecklenburg. Die Fahrt fand unter schlimmsten
Bedingungen statt. Bis auf wenige nicht entwendete Nahrungsmittel hatten
die Menschen keinerlei Verpflegung. Wasser gab es nur in den seltensten
Fällen, daher starben viele Menschen an Erschöpfung oder Hunger.
An wenigen Haltestellen bot man den Vertriebenen Nahrungsmittel zum Kauf
an.
„Zu essen und zu trinken gab es bis Schneidemühl nichts. Dort
stand der Zug drei Tage. Die Polen hatten dort eine Verkaufsstelle, wo
Meta Weiß für ihre Mutter zwei Semmeln für 100 Mark kaufte.
Das kostete auch eine Kelle Suppe. Waltraut gab die Pelzmütze ihres
verstorbenen Opas für ein halbes Brot.“
Ähnliche Szenen spielten sich bei jedem Transport ab. Doch nur die
wenigsten konnten sich die teuren und zudem noch qualitativ schlechten
Nahrungsmittel leisten. Menschen, die nicht den Hungertod starben, standen
oftmals vor dem Wahnsinn. In einem Fall wird von Männern berichtet,
die sich vor Verzweifelung gegenseitig umbrachten.
Bei jedem Halt des Zuges wurden so zahlreiche Menschen neben dem Gleisbett
aufgebahrt. Die Schätzungen gehen hier von 20-30 Todesfällen
pro Tag aus. Angesichts der schlechten Versorgung der Menschen scheint
diese Zahl nicht zu hoch gegriffen zu sein. Die ersten Opfer waren meist
alte Menschen, Kinder oder Verletzte und Kranke.
Die Gesamtzahl der bei dem Transport ums Leben gekommenen Menschen ist
sehr schwer zu schätzen, liegt aber vermutlich um 10%.
Bei den wenigen Zwischenstopps wurden die gebeutelten Menschen noch mehrmals
ausgeplündert. Hierbei beteiligten sich nach den Berichten der Opfer
oftmals polnische Milizsoldaten oder Eisenbahner.165 Die Dauer der Fahrt
war sehr unterschiedlich. Im günstigsten Fall benötigte der
Zug eine Woche für die wenige hundert Kilometer lange Strecke nach
Berlin. Durch die wenigen, aber dafür langen Zwischenstopps konnte
sich die Fahrt bis auf sechs Wochen hinstrecken . Solche Fahrtzeiten bildeten
aber eher die Ausnahme.
Die Insassen der Züge erreichten in einem erschreckenden Zustand
die Auffanglager in der sowjetischen Besatzungszone. Hier wurden die Menschen
unter ähnlich schlechten Bedingungen untergebracht. In den ersten
Tagen kam es aufgrund der hohen Zahl von Vertriebenen zu Engpässen
an Nahrungsmitteln und Unterbringungsmöglichkeiten. Die zahlreichen
unterernährten und kranken Menschen konnten nur ungenügend versorgt
werden. In den ersten Wochen starben dementsprechend viele Menschen an
Typhus.
Auf Wunsch konnten die Vertriebenen zu Verwandten in die westlichen Besatzungszonen
weiterreisen oder sich in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) niederlassen.
Für viele endete die Odyssee aber erst im Januar 1947 – 20
Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
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|
8.3.
Die späten Ausweisungen |
Bei der großen Vertreibungswelle im November/Dezember 1945 wurden
die meisten Einwohner des Kreises Mohrungen ausgewiesen. Eine kleine Zahl
musste aber aus den oben genannten Gründen zurückbleiben.167 Im
Folgenden soll kurz auf deren Schicksal eingegangen werden.
War die Ausweisung der deutschen Bevölkerung im Herbst 1945 noch von
den polnischen Behörden bewusst herbeigeführt, so wurde ihr teilweise
in der Folgezeit die Ausreise verweigert. Die wenigen Deutschen, die noch
in kleinen Gruppen in ihren ehemaligen Dörfern und Städten wohnten,
mussten zahlreiche Demütigungen über sich ergehen lassen. Viele
entschieden sich daher so schnell wie möglich, die alte Heimat zu verlassen.
Nur mit viel Geschick und Überredungs-kunst konnte man die zuständigen
Behörden von der Notwendigkeit der eigenen Ausreise überzeugen.
„Ebenfalls wurde immer gesagt, dass Facharbeiter, wie mein Großvater,
oder die mit den masurischen Namen nicht mit dürften. So begannen wir,
die wir befürchteten, zu diesen zu gehören, den Bürgermeister
zu bestechen, uns mit einzuteilen.
Es war ganz lustig zu sehen, wie Leute vergrabene Sachen ausbuddelten oder
mein Großvater ein Fahrrad auf dem Scheunenboden unter dem alten Heu
hervorholte und es zum Bürgermeister brachte. Jedenfalls kamen alle
außer Demskis, Melzers und Frau Koslowski mit.“
Wie im Fall von Hagenau wurden die letzten verbliebenen Deutschen nach Mohrungen
transportiert. Hier wurde das wenige Gepäck von den Polen geplündert.
Unzählige Menschen aus vielen Ortschaften des Kreises Mohrungen wurden
in der Turnhalle der Herderschule untergebracht. Auch hierbei gingen die
polnischen Zuständigen mit der gewohnten Brutalität vor.
Am nächsten Tag wurden die Menschen zum Mohrunger Bahnhof getrieben,
wo sie auf bereitstehende Züge verladen werden sollten. Diesmal herrschte
nicht die drangvolle Enge der vorherigen Transporte.
Bei diesem letzten großen Transport legten die Polen Wert darauf,
dass die Menschen mit Wasser und Nahrungsmitteln versorgt wurden, ebenfalls
blieben die ständigen Plünderungen aus. Nach relativ zügiger
Fahrt wurden die Menschen für einige Wochen in Zwischenlagern in der
SBZ untergebracht. Von hier aus wurden sie auf die umliegenden Landgemeinden
verteilt.169
Die noch wenigen verbliebenen Deutschen im Kreis Mohrungen reisten in den
Jahren 1947 bis 1954 vereinzelt aus. Auch hierbei mussten ungewöhnliche
Wege ersonnen werden, um die Ausreise zu erwirken.
Der Bericht von Herbert Preuss aus Taabern schildert, wie die Familie durch
einen Verwandten aus der SBZ über das polnische Konsulat in Berlin
angefordert wurde. Sie konnten auf diese Weise Ostpreußen im Januar
1949 verlassen.170 Anderen wiederum gelang die Ausreise nur mit einem Trick.
Helene Grünberg aus Mohrungen beantragte 1955 eine Besuchsreise in
die DDR, die ihr auch nach einiger Zeit bewilligt wurde. Nach Ankunft in
Ost-Berlin konnte sie unter größeren Gefahren, schließlich
hatte sie einen polnischen Pass und kein gültiges Visum für Westberlin,
die Sektorengrenze nach Westberlin überqueren.
Nicht vergessen werden sollten die Ostpreußen, die in ihrer Heimat
blieben. Es gab unterschiedliche Motive für die Menschen, in Ostpreußen
zu bleiben. Manchen wurde sicherlich bis in die 70er Jahre die Ausreise
verweigert, andere aber wollten sich aber auch nicht von ihrer Heimat trennen.
Die Menschen hatten sich zum Teil mit ihrem Schicksal abgefunden und in
ihrer alten, veränderten Heimat ein neues Leben begonnen.
zurück zur Übersicht und Inhaltsverzeichnis
|
9.
Zwangsarbeit und Deportation |
Ein weiteres düsteres Kapitel in der Besetzung Ostpreußens durch
das sowjetische Militär und später durch die polnische Verwaltung
ist die Verpflichtung vieler Männer und Frauen zur Zwangsarbeit.
Hierbei muss zwischen der Zwangsarbeit, die in Ostpreußen und Pommern
geleistet wurde und den Deportationen in die Sowjetunion unterschieden werden.
Letztere dauerte unter Umständen Jahre und forderte zahlreiche Menschenleben.
|
9.1.
Die Zwangsarbeit in Ostpreußen bis zur Vertreibung |
Mit dem Einzug der sowjetischen Truppen in das Kreisgebiet sollte neben
den ständigen Brutalitäten und Morden ein weiteres Kapitel des
Leidens für die Menschen eröffnet werden. Noch während der
anhaltenden Kampfhandlungen rekrutierten die Sowjets aus den Flüchtlingen
in der unmittelbaren Nähe ihrer Einheit Arbeitskräfte.
Da die meisten jungen Männer zwischen 16 und 40 Jahren im Feld waren,
griffen die sowjetischen Soldaten auf die Männer in den darüber
und darunter liegenden Altersgruppen, in der Hauptsache aber auf Frauen
zurück. So wurden für den Bau mehrerer Geschützstellungen
eine ganze Gruppe von Flüchtlingen verpflichtet. Die Menschen mussten
über Wochen hinweg Bäumen fällen und Erdbewegungsarbeiten
durchführen.
Die Kolonne wurde dann von der sowjetischen Armee immer wieder im Bedarfsfall
für die unterschiedlichsten Arbeiten eingesetzt.
Auch nach dem Ende der Kampfhandlungen im Kreis Mohrungen sollte der Arbeitseinsatz
für die sowjetische Armee uneingeschränkt weitergeführt werden.
Durch die großen Schäden am Straßennetz und zahlreichen
Bauwerken im Kreisgebiet wurden immer wieder neue Arbeitskolonnen aus der
deutschen Bevölkerung rekrutiert.
Meistens bildeten die zusammengezogenen Menschen eine Einheit, die unterschiedlichste
Arbeiten zu erledigen hatte.
Für die Auswahl der arbeitsfähigen Deutschen sorgte die sowjetische
Geheimdiensteinheit NKWD.
Diese erschienen immer unerwartet in den Dörfern des Kreises und trieben
eine große Zahl von Menschen zusammen, die sie dann mit LKW forttransportierten.
Die weniger Glücklichen wurden bei solchen „Sammelaktionen“
in die UdSSR verschleppt (vgl. 9.2), ein großer Teil dieser deutschen
Zwangsarbeiter leistete seinen Dienst aber im Kreisgebiet ab.
Die Frauen und Männer wurden in dafür vorgesehenen Gebäuden
einquartiert. Eins dieser zahlreichen Gebäude war eine ehemalige Kaserne
in Mohrungen.
Hier wurde unter anderem ein Trupp von 51 Mädchen und einem Jungen
untergebracht. Diese Menschen mussten unterschiedlichste Arbeiten leisten,
u.a. Wäschereidienste für die Rote Armee, Schutträumarbeiten,
Befestigung von Straßen, Einsätze auf diversen Bauernhöfen.
Die Zwangsverpflichteten mussten wochenlang Schwerstarbeit bei karger Verpflegung
und schlechter Behandlung leisten. Vergewalti-gungen durch russische Soldaten
waren im April 1945 noch üblich.
Wurden die Mädchen nach wochenlanger Arbeit, die sie körperlich
und seelisch völlig auslaugte, entlassen, konnten sie meist nach Hause
zurückkehren.
Doch die Willkür dieser Tage konnte die gerade Entlassenen erneut zu
Opfern werden lassen. Erna Wittek aus Auer berichtet von einem Zwischenfall,
bei dem sie auf der Rückkehr zu ihrem Dorf von sowjetischen Soldaten
abgefangen wurde und zur Arbeit in einer Armeeküche gezwungen wurde
Hier musste sie wochenlang bis zu ihrer „Entlassung“ ihre Dienste
kostenlos zur Verfügung stellen.
Aus einem anderen Bericht geht hervor, dass die Arbeit für die sowjetische
Armee zwar unter Zwang und ohne Entlohnung verrichtet werden musste, die
Behandlung aber nicht immer brutal und rücksichtslos war.
„Alle Arbeiten mussten von den deutschen Menschen ohne Entlohnung
geleistet werden. Die sie beaufsichtigenden Russen waren wenigstens human
gegenüber unseren Frauen und Mädchen.
Sie ließen sie hin und wieder eine Pause machen, setzten sich mit
ihnen hinter eine Hecke und befahlen: ‚Christel, Rita spiwai.’,
was singen bedeutet. Dabei vergaßen sie oft die Zeit, vor allem, wenn
das Wolgalied angestimmt wurde, dann sangen sie zusammen in russischer und
deutscher Sprache.“
Im Sommer 1945 wurde die Ernte zum Teil noch durch die im Kreis stationierten
Einheiten der Roten Armee organisiert. Auch hierbei wurden willkürlich
Menschen zusammengezogen, um die Arbeiten in den nächsten Tage zu verrichten.
Mit der Übernahme der Verwaltung durch die Polen im Spätsommer
1945 sollte sich an der eigentlichen Zwangsarbeit wenig ändern, nur
der Umgang mit den Deutschen wurde nach vorliegenden Berichten noch unmenschlicher.
„Wenn die Frauen bei den Polen ernten mussten, ging es nicht so human
zu wie bei den Russen. Arbeiteten sie nicht schnell genug oder ließen
sie ein paar Halme liegen, so traten sie sie mit den Stiefeln ins Kreuz
oder schlugen mit dem Gewehrkolben zu. Sie waren überhaupt sehr brutal.“
Die wilde Zwangsrekrutierungen der Sowjets ließen nach, und die Menschen
wurden hauptsächlich für einen längeren Zeitraum an einer
Arbeitsstelle eingesetzt.
Die Polen, die nun die beschlagnahmten Höfe der Deutschen bewirtschafteten,
benötigten die meisten Arbeitskräfte im Kreis. Die arbeitsverpflichteten
Frauen und Mädchen wurden hauptsächlich zu Melkarbeiten, Viehhüten
oder Erntearbeiten eingesetzt. Oftmals wurden die ehemaligen Eigentümer
auf ihren eigenen Höfen zur Arbeit eingesetzt.
Die neuen polnischen Besitzer machten sich hier den Fleiß und die
Eigenverantwortung der ehemaligen Besitzer zunutzen, die immer noch die
Hoffnung hatten, ihre Höfe eines Tages zurückzuerhalten, und sie
daher besonders gut bewirtschafteten.
Die Behandlung der Polen gegenüber den deutschen Zwangsarbeitern war
nicht überall gleich, so wird an anderer Stelle von einer fairen Behandlung
der Deutschen durch die Polen berichtet, die deren harte Arbeit respektierten.
Viele Deutsche leisteten noch im Sommer 1946 unbezahlte Dienste für
die Polen, die erst mit ihrer Vertreibung endeten. Die ganze Thematik der
Zwangsarbeit der verbliebenen Deutschen in Ostpreußen ist in der Öffentlichkeit
weitgehend unbekannt.
Zwar hatte sie lange nicht die Ausmaße der Zwangsarbeit, die für
die deutsche Wirtschaft und die Wehrmacht von Kriegsgefangenen, KZ-Häftlingen
oder ausländischen Zwangsarbeitern geleistet werden musste, trotzdem
sollte sie aber nicht vollkommen vergessen werden, denn auch hier wurden
viele Menschen durch schwerste Arbeit, schlechte Ernährung und Brutalität
getötet.
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|
9.2.
Deportation in die Sowjetunion |
Während des Zweiten Weltkrieges war es auf allen Seiten üblich,
Zivilisten zu Arbeiten heranzuziehen.
Die westlichen Alliierten machten kaum Gebrauch von dieser Praxis, im Gegensatz
zur Sowjetunion und zum Deutschen Reich.
Daher gehören auch die Deportationen von unzähligen Frauen und
Männern aus Ostpreußen in die Sowjetunion zu den schlimmen Folgen
der Besetzung durch die Rote Armee.
Obwohl die Zwangsarbeit unter den Nationalsozialisten in aller Munde ist
und in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert wird, wird die Verschleppung
hunderttausender Deutscher in die Sowjetunion von der europäischen
Öffentlichkeit fast gänzlich verdrängt. Dies schließt
die Diskussion in der Bundesrepublik mit ein.
Auch die Bevölkerung des Kreises Mohrungen, deren Schicksale in dieser
Arbeit behandelt wird, wurde Opfer zahlreicher Deportationen, die unmittelbar
nach dem Eindringen der sowjetischen Truppen in das Kreisgebiet begannen.
Bereits zwei Wochen nach Sichten des ersten feindlichen Panzers wurden in
der ersten Februarwoche 1945 zahlreiche Menschen zusammengetrieben und deportiert.
Die sowjetischen Truppen und der Geheimdienst NKWD waren auf der Suche nach
jungen, arbeitsfähigen Menschen, doch durch die Flucht und den schon
lange anhaltenden Krieg waren nur noch wenige Menschen dieser Zielgruppe
vorhanden.
Die Sowjets kümmerten sich nicht sonderlich um diesen Missstand und
rekrutierten die erforderliche Zahl an Zwangsarbeitern einfach aus der verbliebenen
Menschenmenge. Hierbei wurde kaum auf Alter und Geschlecht geachtet.
Auffällig häufig wurden junge Frauen zwischen 14 und 30 Jahren
zusammengetrieben, darunter waren sogar einige Hochschwangere.
In den wenigen vorliegenden Berichten über die Zwangsarbeit der Menschen
aus dem Kreis Mohrungen wird die Praxis der Sowjets immer gleich beschrieben.
Sowjetische Trupps trieben meist 100 – 200 Menschen mit der bekannten
Brutalität aus mehreren Orten zusammen. Diese wurden dann in Sammellager
der Umgebung gebracht. Das vielleicht größte und gefürchtetste
Lager war das ehemalige Sägewerk Makowski in Mohrungen.
Es gab aber noch zahlreiche kleinere Lager. Die wurden je nach Bedarf in
den Ortschaften kurzfristig eingerichtet. Hierzu bedienten sich die sowjetischen
Soldaten leerstehender Hallen, Scheunen oder Kellergebäude.
Die zusammengepferchten Menschen mussten dort meist einige Tage ausharren.
Sie mussten unter physischen und psychischem Druck Dokumente in kyrillischer
Schrift unterzeichnen. Die als „Angaben zur Person“ ausgegebenen
Dokumente stellten sich später als Arbeits-verträge heraus. Bei
den meisten anderen machten sich die Sowjets nicht einmal die Mühe,
sie zu täuschen, sie wurden einfach ohne Nennung von Gründen eingesperrt
und später verschleppt.
Nach der tagelangen Inhaftierung im Kreisgebiet wurden die Zwangsarbeiter
aus dem Kreis Mohrungen in die Gefängnisse Bartenstei und Insterburg
überstellt.
Von hier aus wurde der Abtransport zentral organisiert.
Nach einigen Tage Aufenthalt in den Gefängnissen wurden die Menschen
ab Ende Februar auf russische Waggons verladen.
Die Anzahl der Waggoninsassen schwankte zwischen 50 und 100 Personen. Es
herrschte eine drangvolle Enge. Die Waggons waren nur notdürftig mit
Stroh ausgelegt – hygienische Einrichtungen gab es nicht. In den zahlreichen
Transporten aus Ostpreußen waren jeweils zwischen 1.500 und 3.000
Personen
Die Fahrt dauerte zwischen 14 und 30 Tagen. Die Fahrtdauer richtete sich
hierbei nach der Lage der Arbeitslager. Manche Lager lagen unmittelbar im
Uralgebirge, andere wiederum in Mittelsibirien. Es wird zudem von Zwischenstopps
in Moskau zur „Entlausung“ berichtet. Diese Zwischenstopps verlängerten
die Fahrt zusätzlich.
Auf der Fahrt starben bereits zahlreiche Menschen an Unterernährung
und Erfrierungen. Bei der Ankunft in den Lagern waren die überlebenden
Frauen und Männer in einem entsprechend schlechten gesundheitlichen
Zustand. Offiziell wurde den neuen Zwangsarbeitern eine Ruhepause von 14
Tagen zugesprochen, die aber nicht immer eingehalten wurde.
In den Lagern befanden sich zum Teil bereits deutsche Kriegsgefangene, die
in den vorangegangenen Jahren schon zum Arbeitseinsatz nach Sibirien verbannt
worden waren.
Unter den deutschen Soldaten waren auch einige gefangene Armeeärzte,
die sich so gut wie möglich um die Versorgung der Kranken kümmerten.
Die Verschleppten wurden entweder in gemischte oder reine Frauenlager untergebracht.
Die Menschen hausten in erbärmlichen Baracken, die nur unzureichend
geheizt wurden.
Nach der kurzen Erholungsphase teilte man die Frauen und Männer in
Arbeitskolonnen unterschiedlicher Größen ein, diese hatten unterschiedliche
Arbeiten, wie Holz fällen oder Bauarbeiten zu erledigen. Andere wiederum
wurden Bergwerken zugeordnet, die besondere Gefahren mit sich brachten.
Die Erlebnisse der Menschen in den sowjetischen Lagern ähneln sich
in den vorliegenden Berichten aus dem Kreis Mohrungen sehr stark. Der Bericht
von Käthe Samuel aus Hagenau soll hier exemplarisch von den Leiden
der Zwangarbeiter berichten.
Bis zum Sommer 1945 war die Autorin in dem Lager Nischni-Tagil im Uralgebirge
untergebracht. Hier musste sie vor allem Rodungsarbeiten durchführen.
Diese körperlich anstrengende Arbeit forderte schon bald ihre Opfer.
Trotz der Aufbesserung der Nahrung mit amerikanischen Konserven starben
täglich zwischen 30 und 40 Menschen. Ihre Tagesration bestand aus einem
Liter dünner Suppe, einem Löffel Hirse- oder Graupenbrei und 200g
Brot.
Viele Menschen wurden durch Krankheiten und Seuchen, wie Ruhr oder Typhus
gezeichnet. Den arbeitsunfähigen Überlebenden des harten Winters
wurde mit Kriegsende am 8. Mai 1945 die Heimkehr zugesagt. In der Tat kehrten
im Frühjahr 1945 einige tausend Menschen, darunter auch einige Bewohner
aus dem Kreis Mohrungen, nach Deutschland zurück.
In der Folgezeit wurde Käthe Samuel mehrmals in andere Arbeitslager
verlegt. Hier wurde sie zusammen mit internierten Wolgadeutschen zur Feldarbeit
eingesetzt. Anfang 1946 wurde dann den Gefangenen erstmals gestattet „Rote
Kreuz Karten“ in die Heimat zu schreiben, deren Antworten auch dann
tatsächlich an die Gefangenen weitergegeben wurden.
In den Jahren 1946 bis 1948 wurde Käthe Samuel in mehrere Lager verlegt.
Nach einem Holzlager und einem Lager, in dem Torf gestochen wurde und einer
landwirtschaftlichen Kolchose landete die Autorin Anfang 1949 in einem Erzbergwerk.
Hier durfte sie sich nach mehr als vier Jahren Gefangenschaft erstmals frei
bewegen. Mitte 1949 wurde der kleinen Gruppe deutscher Frauen verkündet,
dass sie in ihre Heimat zurückkehren durften.
Den Frauen wurde die Wahl gelassen, in welche Besatzungszone sie ausreisen
wollten – hierbei wurden den Frauen natürlich die Vorzüge
der SBZ besonders nahegelegt.
Anfang Oktober 1949 wurden jeder Frau 200 Rubel ausgezahlt.
Von diesem Geld konnten sie sich erstmals seit Jahren private Kleidung und
Konsumgüter kaufen.
Der Transport nach Deutschland wurde mit vergleichsweise komfortabel ausgestatteten
Viehwaggons durchgeführt.
Am 8.11.1949 erreichte der Zug die DDR, wo jede Frau ein Begrüßungsgeld
von 20 Mark (Ost) erhielt.
Nach einer gründlichen Untersuchung wurde der Transport nach Friedland
in die Bundesrepublik weitergeleitet. Mit einem Entlassungsschein und 40
DM konnte Frau Samuel zu ihren Verwandten ins Ruhrgebiet weiterreisen, wo
ihre viereinhalbjährige Odyssee am 11.11.1949 endete.
Andere Zwangsarbeiter, wie Anna Koch aus Mohrungen kehrten erst Mitte 1952
aus der sowjetischen Gefangenschaft zurück. Die lakonische Verabschiedung
des Lagerkommandanten lautete:
„Ihr habt 7 _ Jahre unschuldig als Opfer des faschistischen Hitlerkrieges
gesessen.“
Nach Berichten der Zeitzeugen waren die Jahre 1945-47 die schrecklichsten
der Gefangenschaft. Unzählige Menschen starben in den sowjetischen
Lagern an Krankheiten, Unterernährung, Unfällen, dem unmenschlichen
Klima oder schlichtweg an Verzweiflung. Die Verschleppten hatten kaum Hoffnung
ihre Heimat und Familien wiederzusehen. Ab 1948 sollen sich die Bedingungen
für die deutschen Zwangsarbeiter verbessert haben – ein nur schwacher
Trost, schließlich wurden sie bis dahin bereits um Jahre ihres Lebens
beraubt.
Von den ca. 874.000 verschleppten, deutschen Zivilisten kehrten nur etwa
55% nach Deutschland zurück.
Annähernd 400.000 Frauen und Männer ließen ihr Leben in
Sibirien.
Die rückkehrenden Zwangsarbeiter litten noch jahrelang, manche noch
Lebende bis heute, an den physischen und psychischen Folgen ihrer Verschleppung.
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|
10.
Die Aufnahme der Mohrunger Flüchtlinge in der SBZ und den westlichen
Besatzungszonen |
Ein großer Teil der Flüchtlinge aus dem Kreis Mohrungen gelangte
noch vor Kriegsende nach Deutschland.
Die meisten Wagentrecks wurden in die westliche Reichshälfte, hauptsächlich
in das heutige Schleswig-Holstein und Niedersachsen, geleitet.
Dort wurden die Flüchtlinge von zentralen Städten aus auf kleine
Landgemeinden verteilt .
Bereits zu diesem Zeitpunkt wurden die Menschen aus dem Kreis Mohrungen
aus ihrer Gemeinschaft gerissen. Sie befanden sich zwar zu diesem Zeitpunkt
noch in unmittelbarer räumlicher Nähe, doch sollten sie von
dort aus weiter auf Deutschland verteilt werden.
Ähnlich erging es den Flüchtlingen, die mit dem Zug Ostpreußen
verlassen konnten.
Sie wurden zum größten Teil in der späteren SBZ untergebracht,
denn die wenigsten Züge fuhren zu diesem Zeitpunkt noch in die westliche
Reichshälfte.
Die Evakuierten über die Ostsee wurden entsprechend ihres Ankunftshafens
untergebracht.
So gelangten viele Im folgenden Kapitel soll versucht werden die Ausmaße
der Flucht und Vertreibung der ostpreußischen Bevölkerung,
insbesondere aus dem Kreis Mohrungen, in Daten und Fakten zu fassen.
Beim Studium der Zahlen sollten aber nie die Einzelschicksale der Menschen
vergessen werden – die Gefahr, die Zahlen als anonyme Menge zu betrachten,
wurde durch die Schilderung der Schicksale in den vorangegangenen Kapitel
vermieden.
Vor Beginn des Zweiten Weltkrieges lebten 2.488.000 Menschen in Ostpreußen.
Durch den Geburtenüberschuss der Jahre 1939 bis 1945 kommen noch
einmal 121.000 Personen hinzu.
Damit würde sich für Kriegsende eine Bevölkerungszahl von
2.609.000 Einwohner ergeben, hierbei sind die Kriegsverluste nicht miteingerechnet.
Ende 1944 lebten in Ostpreußen nach vorsichtigen Schätzungen
2,35 Mio. Menschen.
Bereits im Herbst 1944 sind ca. 500.000 Menschen abgewandert oder evakuiert
worden.
Von Januar 1945 an sind in etwa 250.000 Flüchtlinge über den
Landweg (Eisenbahn oder Treck) nach Westen gelangt.
Weitere 450.000 Menschen gelangten über das zugefrorene Haff in den
Raum Danzig/Pommern.
Von Pillau aus flüchteten 200.000 Ostpreußen über die
Frische Nehrung ebenfalls in denFlüchtlinge in das heutige Mecklenburg-Vorpommern
und nach Schleswig-Holstein.
Eine große Anzahl wurde auch nach Dänemark evakuiert und dort
in Lagern untergebracht. Viele Menschen blieben hier bis Ende der 40er
Jahre interniert, bis sie in die Bundesrepublik oder die Deutsche Demokratische
Republik ausreisen durften.
Das ganze System der Unterbringung der Flüchtlinge war in der Endphase
des Deutschen Reiches sehr improvisiert. Der zerfallende Staats- und Parteiapparat
konnte diese Aufgabe nur mit größten Schwierigkeiten lösen.
Die Vertreibung der Ostpreußen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges
kam in ihrem Ausmaß für die neuen deutschen Behörden überraschend.
Nach einigen Anfangsschwierigkeiten mit der Bewältigung der großen
Menschenmassen verlief die Unterbringung der Vertriebenen unproblematischer
als noch vor Kriegsende.
Die erste Station für die unzähligen Vertriebenentransporte
im Spätherbst 1945 war Berlin. Im Umkreis der Viersektorenstadt wurden
die Menschen in zahlreichen Lagern untergebracht. Die Bedingungen, wie
im Lager Luckenwalde, müssen schlecht gewesen sein.
Zu wenige Ärzte konnten sich um die kranken und schwachen Menschen
kümmern.
So starben bereits kurz nach der Vertreibung Tausende Menschen in den
deutschen Lagern.
Von Berlin aus wurden die Menschen in alle vier Besatzungszonen Deutschlands
weitergeleitet.
Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen
Demokratischen Republik im Jahre 1949 mussten noch zahlreiche Spätvertriebene,
Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene in die Gesellschaft integriert werden.
Die Einreise in die beiden Staaten erfolgte auch hier über zentrale
Lager wie das niedersächsische Friedland. Der Aufenthalt war hier
in den meisten Fällen nicht sehr lange. Die Neuankömmlinge wurden
nach Möglichkeit zu Verwandten, in die zu diesem Zeitpunkt 10 Bundesländer,
verschickt. Hier wurde die Unterbringung regional geregelt.
Der Verbleib der ehemaligen Einwohner des Kreises Mohrungen ist sehr schwer
zu rekonstruieren. Der Verteiler der Mohrunger Heimatnachrichten gibt
über den jetzigen Verbleib der ehemaligen Flüchtlinge und Vertriebenen
Auskunft.
Hieraus kann man in vielen Fällen auf die unmittelbare Unterbringung
nach der Vertreibung schließen, da die meisten Menschen in dieser
Region wohnen geblieben sind.
Die ehemalige Gemeinschaft der Menschen aus dem Kreis Mohrungen ist heute
über ganz Deutschland verteilt, einige finden sich sogar bis in die
entlegensten Winkel der Welt – vertrieben, auseinandergerissen und
dennoch vereint durch ihr gemeinsames Schicksal.
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|
11.1.
Die Bilanz der Flucht und Vertreibung |
Im folgenden Kapitel soll versucht werden die Ausmaße der Flucht
und Vertreibung der ostpreußischen Bevölkerung,196 insbesondere
aus dem Kreis Mohrungen, in Daten und Fakten zu fassen. Beim Studium der
Zahlen sollten aber nie die Einzelschicksale der Menschen vergessen werden
– die Gefahr, die Zahlen als anonyme Menge zu betrachten, wurde
durch die Schilderung der Schicksale in den vorangegangenen Kapitel vermieden.
Vor Beginn des Zweiten Weltkrieges lebten 2.488.000 Menschen in Ostpreußen.
Durch den Geburtenüberschuss der Jahre 1939 bis 1945 kommen noch
einmal 121.000 Personen hinzu. Damit würde sich für Kriegsende
eine Bevölkerungszahl von 2.609.000 Einwohner ergeben, hierbei sind
die Kriegsverluste nicht miteingerechnet.
Ende 1944 lebten in Ostpreußen nach vorsichtigen Schätzungen
2,35 Mio. Menschen198. Bereits im Herbst 1944 sind ca. 500.000 Menschen
abgewandert oder evakuiert worden.
Von Januar 1945 an sind in etwa 250.000 Flüchtlinge über den
Landweg (Eisenbahn oder Treck) nach Westen gelangt. Weitere 450.000 Menschen
gelangten über das zugefrorene Haff in den Raum Danzig/Pommern. Von
Pillau aus flüchteten 200.000 Ostpreußen über die Frische
Nehrung ebenfalls in den Raum Danzig/Pommern.
Einen wichtigen Anteil bei der Evakuierung hatte die Deutsche Kriegsmarine,
welche die Flüchtlinge über den Seeweg evakuierte. Aus der Hafenstadt
Pillau wurden 450.000 Menschen nach Dänemark und Norddeutschland
evakuiert.
Somit konnten nach vorsichtigen Schätzungen 1,85 Mio. Menschen aus
Ostpreußen fliehen, so dass 500.000 Deutsche den Sowjets in die
Hände fielen. 1950 lebten noch ca. 160.00 Deutsche in Ostpreußen,201
von denen aber der größte Teil im nächsten Jahrzehnt ausreisen
konnte.
In den letzten Jahren lebten aber immer noch einige tausend Deutsche in
Ostpreußen, die nicht vertrieben, sondern polnisiert wurden (vgl.
8.3.).
Die Zahl der Opfer, die Ostpreußen zu beklagen hat, ist unverstellbar
groß. Die Gesamtzahl der mittel- und unmittelbaren Kriegsopfer beläuft
sich in Ostpreußen auf 511.200 Personen. Die Anzahl der zivilen
Opfer liegt bei 311.200 Menschen.202
Damit sind 20,7 % - jeder fünfte Einwohner – der ostpreußischen
Bevölkerung durch die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges ums Leben
gekommen.
Die Bilanz im Kreis Mohrungen sieht ähnlich erschreckend aus.
Von den 1939 gezählten 56.255 Einwohnern des Kreises gelten 4.041
Soldaten als vermisst oder gefallen. 3.484 Zivilisten sind in der Folge
der Kampfhandlungen im Kreise und der Flucht und Vertreibung ums Leben
gekommen.
Insgesamt wählten 116 Menschen den Freitod.
Die Gesamtopferzahl beläuft sich für den Kreis Mohrungen damit
auf 7.641 Personen – das sind 13,6 % der Gesamtbevölkerung.
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|
11.2.
Der politische Hintergrund der Vertreibung – Die Konferenz von Potsdam |
Der Problematik der Besetzung der ehemaligen deutschen Ostgebiete könnte
ein ganzes Buch gewidmet werden. In diesem Kapitel soll nur kurz auf die
Verknüpfung des Leidens der ostdeutschen Bevölkerung mit den
alliierten Beschlüssen hingewiesen werden.
Bereits während des Krieges wurden wichtigen Vorentscheidungen für
die Vertreibung der deutschen Bevölkerung beschlossen.
Eng verbunden mit der Frage der deutschen Ostgebiete war der sowjetische
Wille, das im Hitler-Stalin-Pakt 1939 einverleibte Ostpolen zu annektieren.
Hiermit verband sich automatisch die Frage nach einer Westverschiebung
Polens.
Beim Treffen der „großen Drei“204 in Teheran (28. November
bis 1. Dezember 1943) waren die Nachkriegsgrenzen Polens und Deutschlands
kritische Gesprächspunkte. Roosevelt forderte Volksent-scheide in
den umstrittenen Gebieten, wie Litauen und Ostpolen, dies lehnte Stalin
aber vehement ab
Die Idee der Vertreibung der deutschen Bevölkerung war keine rein
sowjetische Erfindung. Vermutlich beeinflusst durch die in Großbritannien
weilende polnische und tschechoslowakische Exilregierung formulierte Churchill
seine Einstellung zur Vertreibung der deutschen Bevölkerung auf einer
Unterhausrede am 15. Dezember 1944 wie folgt:
„Die nach unseren Ermessen befriedigendste und dauerhafteste Methode
ist die Vertreibung. Sie wird die Vermischung von Bevölkerungen abschaffen,
die zu endlosen Schwierigkeiten führt. Man wird reinen Tisch machen.“206
Zu dieser Zeit machte man sich noch keine Vorstellung, wie diese Umsiedlung
zu bewerkstelligen sei. Churchill glaubte noch in Jalta, dass eine Umsiedlung
von sechs Millionen Menschen realisierbar sei.
Die wichtigsten Vorentscheidungen wurden auf der Konferenz von Jalta (4.
bis 11. Februar 1945) beschlossen. In der Zwischenzeit wurde die sowjetische
Idee der Westverschiebung Polens salonfähig. Am 6. Februar fiel auf
der Konferenz die Entscheidung, die Curzon Linie als neue polnische Ostgrenze
festzulegen.
In der Frage der polnischen Westgrenze bestand noch keine Einigkeit, der
Beschluss, die Deutschen aus den betroffenen Gebieten in das „Restreich“
umzusiedeln wurde aber schon gefasst.
Ein Konsens bestand bereits über die Aufteilung Ostpreußens
zwischen Polen und der Sowjetunion. Uneinigkeit gab es zwischen den Konferenzteilnehmern
noch bei der Frage zur neuen deutschen Ostgrenze. Hier wurde die Frage
nach einer deutsch-polnischen Oder-Grenze oder einer Oder-Neiße-Linie
kontrovers diskutiert. Die endgültige Klärung der Grenzfrage
wurde auf eine spätere Friedenskonferenz verschoben.
In Jalta wurde neben der Grenzfrage eine weitere schwerwiegende Entscheidung
getroffen. In der Reparationsfrage einigte man sich auf den Terminus „Reparations
in kind“ (Kriegentschädigungen in Leistungen), hierbei waren
sich Stalin, Roosevelt und Churchill einig, dass es sich auch um Dienstleistungen
handeln würde – damit wurde die Verschleppung hunderttausender
Deutsche in die Sowjetunion zu Zwangsarbeiten formell gebilligt.
Mit dem Waffenstillstand vom 8. Mai 1945 wurde eine Neuordnung des besiegten
Deutschen Reiches notwendig. Vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 trafen
sich die drei Siegermächte Vereinigte Staaten von Amerika, Großbritannien
und Sowjetunion im Cecilienhof in Potsdam.
Auf dieser Konferenz sollten auch die schon in Teheran und Jalta angesprochenen
Punkte zur Frage der Westverschiebung Polens geklärt werden.
Churchill und der neue US-Präsident Harry S. Truman sprachen sich
gegen eine Ausdehnung Polens westlich der Oder aus, wurden aber abermals
von Stalins Argument, es befänden sich dort kaum Deutsche, überredet.
Die zu Konsultationen herangezogene polnische Regierung gab immerhin 1,5
Mio. verbliebene Menschen in den besetzten deutschen Ostgebieten zu, die
aber alle ausreisewillig wären und nur noch bis zur Einbringung der
Ernte dort verweilen würden (nach vorsichtigen Schätzungen des
Alliierten Kontrollrates befanden sich aber noch mehr als 3,5 Mio. Menschen
in den Gebieten östlich der Oder-Neiße Linie).213 Die Westalliierten
stimmten trotz ihrer Bedenken der Umsiedlung zu.
Der für die Vertreibung der deutschen Bevölkerung östlich
der Oder-Neiße-Linie relevante Artikel XIII. des Potsdamer Protokolls
lautet wie folgt:
„Die drei Regierungen haben die Frage unter allen Gesichtspunkten
beraten und erkennen an, dass die Überführung der deutschen
Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, der Tschechoslowakei
und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt
werden muss.
Sie stimmen darin überein, dass jede derartige Überführung,
die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise
erfolgen soll."
Der Verlauf und die Umstände der Vertreibung durch die polnische
Verwaltung sind in Kapitel 8.2. deutlich beschrieben worden – von
ordnungsgemäßer und humaner Weise kann hier in keiner Weise
die Rede sein. Auch die Durchführung durch die polnischen Verantwortlichen
wurde nicht vertragsgemäß geleistet.
In Absatz zwei und drei des Artikels XIII. heißt es, dass nur der
Alliierte Kontrollrat bestimmen sollte, wann und wo wie viele Deutsche
umgesiedelt werden sollten.
Nachdem die Potsdamer Konferenz die neue polnische Verwaltung in den ehemaligen
deutschen Ostgebieten akzeptierte, wurde per Dekret am 13. November 1945
die polnische Rechtsordnung auf die neuen Gebiete ausgedehnt.
Zeitgleich wurden einige hunderttausend Menschen unter dem nun eingeführten
polnischen Recht aus ihrer ostpreußischen Heimat vertrieben.
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|
12.
Resümee |
Das hier dokumentierte Schicksal des ehemaligen Kreises Mohrungen steht
stellvertretend für unzählige weitere Kreise in Ostpreußen,
Pommern, Schlesien oder dem Sudetenland.
In fast allen Fällen wurden die Menschen durch das menschenverachtende,
nationalsozialistische Regime im Stich gelassen. Zu spät wurden sie
vor den näherrückenden sowjetische Truppen evakuiert –
der Tod Hunderttausender wäre so vermeidbar gewesen, doch die Erhaltung
von Menschenleben war nie das Ziel der Nationalsozialisten.
Die Rücksichtslosigkeit und Brutalität der Nationalsozialisten
und ihrer Helfer in Militär und Wirtschaft zieht sich wie ein roter
Faden durch die deutsche Geschichte von 1933 bis zum Kriegsende 1945.
Zuerst ermordeten sie in Deutschland Andersdenkende, Kritiker und Juden,
dann wurde ganz Europa mit einem schrecklichen Krieg überzogen, der
in jedem Land unzählige Opfer forderte. Auf dem Gipfel des Mordens
wurden industriell ganze Bevölkerungsgruppen verschleppt und ermordet.
Erst mit dem Rückzug der Wehrmacht kam das Kriegsleiden zurück
nach Deutschland. Auf ähnlich brutale Art wie SS, Waffen-SS, Polizeieinheiten
und manche Wehrmachtseinheit in Polen und der UdSSR gingen die sowjetischen
Truppen nun mit der deutschen Bevölkerung im Osten Deutschlands um.
Die Zivilisten in den östlichen Provinzen des Reiches waren genauso
Opfer wie alle anderen geschändeten und ermordeten Menschen in ganz
Europa – sie haben Verwandte, Freunde und ihre Heimat verloren,
obwohl die wenigsten von ihnen selbst einem Menschen Leid zugefügt
haben.
Nach der Flucht vor der sowjetischen Armee und den Gewalttaten der Sowjets
an der deutschen Bevölkerung setzte ein weiteres schlimmes Kapitel
in der Geschichte der Ostdeutschen ein: Die Vertreibung.
Die Westalliierten stimmten den sowjetischen und polnischen Plänen
zur Umsiedlung der deutschen Bevölkerung zu. War dies im Falle Churchills
die Überzeugung man könne so „den Keim weiterer Kriege
ersticken“, so war es auf Seiten der Amerikaner eine totale Fehleinschätzung
der Lage in dem sowjetisch besetzten Teil Ostdeutschlands.
Obwohl die Fronten auf der Potsdamer Konferenz zwischen den Westalliierten
und der Sowjetunion schon sehr verhärtet waren, schenkte man Stalin
Glauben, dass die meisten Ostdeutschen entweder tot oder bereits geflohen
waren.
Diese folgenschwere Entscheidung hatte dann ab Sommer 1945 die Vertreibung
mehrerer Millionen Ostdeutscher zur Folge. Bei den wilden Vertreibungen
bis Ende 1945 kam es dann durch mangelnde Organisation, aber auch durch
bewusstes Unterlassen von Versorgung jeglicher Art durch die polnische
Verwaltung zu mehreren zehntausend Toten.
Ein weiteres großes Unrecht war die Verschleppung vieler Menschen
in die Sowjetunion. Durch einen bewusst ungenau formulierten Passus des
Potsdamer Protokolls wurde die Einforderung von Reparationen durch menschliche
Arbeitskraft legalisiert. Auf diese Weise gelangten zehntausende Zivilisten,
meist junge Frauen, nach Sibirien und wurden dort unter unmenschlichen
Bedingungen zur Zwangsarbeit eingesetzt. Die letzten dieser Verschleppten
kamen erst 10 Jahre nach Ende des Krieges zurück – die Hälfte
der deutschen Zwangsarbeiter ließ ihr Leben in der Gefangenschaft.
Für den heutigen Leser erscheint das oben beschriebene Leiden der
Menschen fern und unwirklich. Im Zusammenhang mit Vergewaltigungen und
„ethnischen Säuberungen“ verbindet man heute fast nur
noch die schreckliche Erlebnisse im ehemaligen Jugoslawien oder in Zentralafrika
(Ruanda und Zaire) – die Geschehnisse in unserem eigenen Land in
den Jahren 1939 bis 1946 scheinen aus dem kollektiven Gedächtnis
fast gänzlich verschwunden zu sein.
Doch wie kann man der jungen Bevölkerung die Schrecken des Krieges
am besten beschreiben, um sie davor zu schützen, nie wieder einen
Krieg miterleben zu müssen?
Am sinnvollsten erscheint hier die Darstellung der Erlebnisse der eigenen
Vorfahren und Mitmenschen, deren Erfahrungen gerade einmal ein halbes
Jahrhundert alt sind.
Doch in den letzten drei Jahrzehnten reduziert sich merklich die Anzahl
von Neuerscheinungen, die sich mit der Problematik der Flucht und Vertreibung
im und nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigen.
Sicherlich ist in den 50er und 60er Jahren eine große Anzahl von
Werken publiziert worden, doch durch die Öffnung der osteuropäischen
Archive und der damit verbundenen Fülle neuer Information ist eine
Aufarbeitung der Vertreibungsgeschichte der deutschen Bevölkerung
aus dem Osten nötig geworden.
Die Verarbeitung dieses Bereiches soll möglichst sachlich und frei
von Emotionen, die sicherlich durch die Verlust der Heimat und zahlreicher
Angehöriger begründet war, vonstatten gehen.
Das Ziel dieser Bestrebung in einem, in absehbarer Zeit, politisch, kulturell
und wirtschaftlich vereinten Ost- und Westeuropa kann nur durch ein Miteinander
und nicht durch gegenseitiges Aufzählen von Untaten erreicht werden.
Hierbei darf aber auch das Leiden der Menschen nicht vergessen werden,
schließlich war ihr Tod auf beiden Seiten in jeder Hinsicht sinnlos.
Vergeben, aber nicht Vergessen – so sollte die richtige Schlussfolgerung
lauten, denn nur durch ein Vergeben kann auf beiden Seiten die Hand zu
einem friedlichen Miteinander gereicht werden – und nur durch ein
ständiges Erinnern an das schlimme Geschehen können neuerliche
Grausamkeiten vermieden werden.
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15.
Anhang-Verteilung der Mohrunger Flüchtlinge und Vertriebenen |
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Der
Verbleib aller Mohrunger Flüchtlinge und Vertriebenen unmittelbar
nach dem Zweiten Weltkrieg ist heute kaum mehr zu rekonstruieren.
Hilfestellung bietet die Versandliste der „Mohrunger Heimatkreisnachrichten“,
dem internen Printmedium der Kreisge- meinschaft Mohrungen.
Diese kann bei der Rekonstruktion des Verbleibes sehr aufschlussreich
sein.
Wie schon in den vorausgegangen Kapiteln beschrieben, sind die meisten
Flüchtlinge aus dem Kreisgebiet in Norddeutschland untergekommen.
Im Verlauf der nach dem Kriegsende anlaufenden Vertreibung durch die Polen
gelangten viele Mohrunger aber auch in andere Gebiete Deutschlands.
Einige regionale Verschiebungen durch spätere Umzüge sind aber
einzubeziehen, doch bewegt sich diese Fehlerkorrektur im zu vernachlässigenden
Bereich.
Auf Grund der Auswanderung einiger ehemaliger Bewohner des Kreises befinden
sich auch europäische und außereuropäische Länder
auf der Verteilerliste.
Diese erfasst natürlich nicht alle ehemaligen Bewohner des Kreises
Mohrungen, da nicht alle die MHN beziehen. Der Prozentsatz der noch lebenden
Kreisbewohner, welche die MHN beziehen, liegt aber sehr hoch.
Die heutige Anzahl von ca. 4.000 Beziehern der Heimatnachrichten ist nur
noch ein kleiner Bruchteil der einst aus dem Kreis Mohrungen vertriebenen
Menschen.
Im Laufe eines halben Jahrhunderts ist der größte Teil der
überlebenden Flüchtlinge und Vertriebenen inzwischen verstorben.
Die Verteilerliste verwendet das Postleitzahlenverzeichnis der Deutschen
Post und ist damit nicht in allen Fällen deckungsgleich mit den Grenzen
der Bundesländer.
Stand 31.12.1999 (Quelle Kreisgemeinschaft Mohrungen)
Bundesrepublik Deutschland:
Berlin/Potsdam 2,75 %
Baden-Württemberg 4,21 %
Brandenburg 0,79 %
Mecklenburg-Vorpommern 6,47 %
Sachsen 1,85 %
Sachsen-Anhalt 2,45 %
Thüringen 1,45 %
Schleswig-Holstein, Hamburg,
Bremen, nördliches Niedersachsen 24,44 %
Südliches Niedersachsen 13,99 %
Nordrhein-Westfalen 26,50 %
Rheinland-Pfalz, Hessen, Saarland 6,24 %
Oberbayern 2,24 %
Niederbayern/Franken 2,81 %
II. Polen (Deutschstämmige) 1,86 %
III. Sonstiges Ausland 1,95 %
164 Bezieher der MHN befinden sich im Ausland.
Argentinien (1), Australien (9), Belgien (1), Großbritannien (10),
Dänemark (3), Frankreich (2), Israel (2), Italien (2), Kanada (33),
Namibia (1), Niederlande (3), Norwegen (1), Österreich (10),
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Fluchtwege der Zivilbevölkerung nach der Januaroffensive
der Roten Armee
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