Es war ein strahlender, heißer Sommertag im ostpreußischen
Oberland, dieser Montag, der 21. August 1939 als ich durch Kaiserschnitt
im Mohrunger Krankenhaus das Licht der Welt erblickte. Prof. Veitinger,
der Leiter des Krankenhauses, verhalf mir so zu meinem Leben.
Meine Eltern Bruno Paul Krause und Charlotte (genannt Lore), geb. Lemke
waren 1935 frisch verheiratet in Mohrungen zugezogen und bewohnten in
der Veitstraße 3 eine schöne Dreieinhalb- Zimmerwohnung, rechts
unten im Parterre. Mein Vater, gebürtig aus Kreuzburg im Kreis Preußisch Eylau, hatte in Königsberg Germanistik, Geographie und Geschichte studiert und war - nach einer kurzen Zeit in Gerdauen 1935 als Assessor an die Mohrunger Herderschule versetzt worden.
Am 15. April 1937 wurde er vom Mohrunger Bürgermeister zum Studienrat
berufen. Seine Dienstbezüge betrugen nun 370,64 RM.
Meine Mutter, gebürtig aus Memel, hatte bei Gräfe und Unzer
in Königsberg Buchhändlerin gelernt, ist in Mohrungen aber nicht
mehr berufstätig gewesen. Die für meine Mutter schwere Geburt ihres ersten Sohnes mit einem Gewicht von fast 9 Pfund mußte sie ohne meinen Vater erleben, denn dieser war bereits am 17. August mit unbekanntem Ziel zur Wehrmacht eingezogen worden. Erst am 27. August wie ich seinem noch heute vorliegenden Kriegstagebuch entnehmen kann erfuhr er von seinem Stammhalter. Er lag in diesen Tagen mit seiner Einheit ganz in der Nähe von Mohrungen, nämlich in Freystadt an der Südgrenze von Ostpreußen. Nachdem der Angriffsbefehl auf Polen an seinem 39. Geburtstag, dem 24. August, wieder abgeblasen worden war, ging es dann doch am 1. September über die Grenze bei Lessen. Der Polenfeldzug, an dem mein Vater als Feldwebel der Reserve teilnahm, hatte begonnen. In seinem Tagebuch erwähnt er den Finanzbeamten Uffz. Jek und den Sportlehrer Ltn. Weichsel, beide aus Mohrungen, die beide gleich am ersten Tage des Krieges in der Nähe von Lessen gefallen sind. Am 16. September fiel dann noch sein "Melder 3", der Mohrunger Tischlermeister Alfred Ehrlich, und am 18.9.1939 der Geschäftsführer der Mühle Koy in Mohrungen, Leutenant Wegsel; beide bei Kämpfen vor Warschau bei Nowy-Dwor.
Mein Vater selbst wurde am 20. September leicht verwundet und kam ins
Feldlazarett Nasielsk, von wo aus er dann bald nach Mohrungen entlassen
wurde und erstmals mich, seinen Sohn sah. Bereits am 28.September 1939 fand dann in der Mohrunger St. Peter und Paul Kirche meine Taufe statt. Es waren alle gekommen, die Großeltern Krause aus Kreuzburg und die Geschwister meines Vaters. Aber nicht nur ich stand im Mittelpunkt, sondern besonders der aus "dem Krieg" heimgekehrte. Mein Vater ließ es sich auch nicht nehmen noch humpelnd und an Krücken - in der feldgrauen Uniform, nicht gereinigt, sondern so wie er sie ausgezogen hatte, an meiner Taufe teilzunehmen: in dem Kleid der Ehre, wie er es nannte.
Mohrungen war eine liebenswerte Kleinstadt im ostpreußischen Oberland
mit Sitz der Kreisverwaltung. Den zentralen Kern bildete die Altstadt
mit dem für Ostdeutsche Städte typischen viereckigen Marktplatz
und dem Rathaus in der Mitte. Etwas abseits lag die Backsteinkirche „Peter
und Paul“ aus dem 14. Jahrhundert. Geprägt war der Altstadtkern
durch engen Gassen, die von einer nur noch an wenigen Stellen erhaltenen
Stadtmauer umschlossen waren.
Im Laufe der Zeit hatte sich die Stadt nach Osten in Richtung Schertingsee
und nach Norden in Richtung des Bahnhofs in lockerer Bebauung ausgedehnt.
Hier in der Veitstraße in der Nähe des Bahnhofs wuchs ich nun
heran. Die Straße war geprägt durch mehrere Sechsfamilienhäuser, die alle dem Kreis gehörten und erst 1935 errichtet worden waren. Unsere Wohnung wurde erschlossen durch einen breiten Korridor, von dem alle Zimmer abgingen. Gleich vorne links das Badezimmer mit einem damals noch nicht überall üblichen Spülklosett und Badewanne mit Gasbadeofen.
Der nächste Raum daneben war die Küche, ebenfalls mit Gasherd und einem zentral zu beheizendem Kohleofen für die Zentralheizung der ganzen Wohnung. Wiederum eine Tür weiter war das elterliche Schlafzimmer. All diese Räume hatten ihre Fenster nach hinten hinaus mit Ausblick auf eine große Rasenfläche, die zum Wäsche trocknen und bleichen genutzt wurde, sich aber auch bestens zum Spielen eignete.
Am Ende des langen Korridors war das sogenannte halbe Zimmer, eine kleine
Kammer, die ihr Fenster zur Giebelseite mit Ausblick auf das Haus Veitstraße
1 hatte. Dies war nun mein Kinderzimmer. Die schönsten Räume der Wohnung lagen jedoch zur Straßenseite. Diese, zur Südseite gelegenen zwei Zimmer, waren mit einer Schiebetür verbunden. Eines war das sogenannte Herrenzimmer, möbliert mit einer breit ausladenden Club-Garnitur und einer von Wand zu Wand und bis unter die Decke ragenden Regalwand, vollgestopft mit Büchern.
Der zweite Raum war das sogenannte Eßzimmer mit einem großen Tisch in der Mitte.
Die zweite Parterre-Wohnung in unserem Haus bewohnte die Familie Roman
Rosewicz (nach dem Krieg: Rosewitz), deren Sohn und Tochter Schüler
meines Vaters waren, und die liebevoll auf mich aufpaßten, wenn
meine Eltern mal ausgingen.
Gleich darüber im ersten Stock wohnte die Familie Dreschhoff mit
ihren Töchtern Ute und Karin, beide in meinem Alter und somit die
ersten Spielgefährten.
Dann gab´s da noch den Peter Wollenweber im Haus Veitstraße
1 und schräg gegenüber die Familie Widdra mit der Tochter Doris
sowie in der Adolf-Hitler-Straße die Langenbachs mit ihrem Sohn,
der wie ich ebenfalls Hartmut hieß.
Dies ist mir deshalb noch so gut in Erinnerung, weil diese Familien später
noch eine bedeutende Rolle in meinem Leben spielen sollten.
Anfang 1940 als der Fuß meines Vaters ausgeheilt war wurde mein Vater UK gestellt, das heißt, er wurde als unabkömmlich eingestuft, so daß er zunächst nicht mehr Soldat sein mußte, sondern wieder an der Herderschule unterrichten konnte. Für meine Entwicklung war das natürlich von großem Vorteil. Sobald ich krabbeln, laufen, denken, sprechen konnte war mein Vater mein bester Freund. Wir lagen stundenlang auf dem Teppich und spielten mit allerlei Holzfahrzeugen und Bauklötzen natürlich auch Krieg denn dieser beherrschte nach wie vor die Gedankenwelt der Erwachsenen.
Oft, wenn ich mit meiner Mutter einkaufen war, und ich gerade beim Fleischer Fischer ein Stückchen Wurst trotz Lebensmittelkarten bekam meine Mutter, die Frau Studienrat, oft mal was extra zugesteckt außer der Reihe bekommen hatte, gingen wir meinen Vater von der Herderschule abholen. In dem Torbogen an der Poststraße zu stehen und auf den Moment seines Erscheinens zu warten, war für mich immer eine große Freude.
Im Sommer ging`s dann oft an den Schertingsee zum Baden und zum Spielen und Buddeln an dem kleinen Sandstrand. Im Winter wurde dann der Schlitten zurecht gemacht und am Damm der großen Eisenbahnbrücke an der Georgenthaler Chaussée gerodelt. Der Vater war immer für mich da! Für 5,40 RM jährlich pachteten meine Eltern zum 1.4.1941 die Parzelle Nr. 36 auf dem dem Kreis gehörenden früheren Teßmann`schen Sägewerksplatz, wie es im Schreiben des Landrats hieß, in der ungefähren Größe von 180 qm. Hier wurden nun Kartoffeln, Mohrrüben, Buschbohnen und Tomaten angebaut ein Grundbedürfnis meines Vaters, der ein großer Naturfreund war - aber auch eine willkommene Ernte in einer Zeit mit rationierten Lebensmitteln.
In der Mitte der Parzelle war eine kleine Ruhezone mit Rasen angelegt, auf der eine weiße Bank stand. Alle Fotos, die von Personen auf dieser Bank gemacht wurden, zeigen im Hintergrund immer den Mohrunger Bahnhof.
Meine Eltern hatten in Mohrungen einen großen Bekanntenkreis, der
sich überwiegend aus dem – damals sehr jungen - Kollegium der
Herderschule zusammen setzte. Besonders intensiv war die Freundschaft
zu den Familien von Studiendirektor Dr. Grabo und zu den Studienräten
Dr. Ahlert und von Riesen, die auch nicht weit von uns entfernt wohnten.
Es wurde viel gefeiert und meine Mutter hat später einmal gesagt,
daß es ihre schönsten Jahre damals in Mohrungen gewesen seien. Gefeiert wurde auch, wenn die Ehemänner von meiner Mutters Schwestern, von denen eine in Königsberg und die andere in Elbing lebte, in der Nähe von Mohrungen waren und mal für einen Abend auf Besuch kamen. Meine Mutter hatte dann zwar immer Angst um ihre "Römer", denn die waren gerade gut genug für die Schwager meines Vaters die beide Soldat waren und später gefallen sind - und mit denen er sich so gut verstand. Meine Mutter verschwand an solchen Abenden lieber zur NS-Frauenschaft. Heimlich durfte ich dann etwas länger aufbleiben und auf den Knien des Onkel Willy Salitter Hoppe-hoppe-Reiter spielen. Einmal sagte er: "Na, Jung`, was willst werden: Panzer oder Flieger.?" . . Auch veranstaltete mein Vater in Mohrungen oft Dichterlesungen. Da er selbst sich in seiner Studienzeit mit den Ostpreußischen Dichtern der Gegenwart sehr beschäftigt hatte, kannte er sie alle und lud sie dann vor der Lesung zu uns nach Hause zum Abendbrot ein. So waren bei uns Ernst Wiechert, Alfred Brust, Fritz Kudnig und Agnes Miegel zu Besuch. Es ist überliefert, daß Agnes Miegel, die wohl bekannteste aus der damaligen Zeit, mich auf ihren Knien gewiegt und mit mir ein wenig gespielt hat.
In guter Erinnerung habe ich auch die Sommerferien, die wir stets bei meinen Großeltern in Kreuzburg verlebten. Wir fuhren mit der Eisenbahn bis Tharau, um dann in die Kleinbahn zu steigen und direkt am Kreuzburger Bahnhof mit viel Hallo abgeholt zu werden. Meine Mutter wurde im Haus ihrer Schwiegereltern immer wie eine eigene Tochter aufgenommen, denn sie selbst hatte keine Eltern mehr. Mein Großvater Ernst Rudolf Krause war dort Konrektor an der Stadtschule und Organist an der dortigen Kirche. Die Großeltern bewohnten ein kleines Häuschen direkt neben der Kirche mit einem herrlichen Obstgarten. Auch das Spielen mit meinem Opa, der damals schon in Ruhestand war, aber dann wegen Lehrermangel doch wieder unterrichten mußte - war immer ein Ereignis und das Pflücken der vielen roten Beeren ein besonders Vergnügen. Leider war ich ein wenig verwöhntes und behütetes Kind auch oft krank. Am Schlimmsten hatte es mich wohl erwischt, als ich als zweijähriger wegen eines Augenfehlers nach Königsberg zum Augenarzt mußte. Im Abteil 3. Klasse für Reisende mit Traglasten, also auch für meine Mutter mit mir in der Kinderkarre spielte ich in einem unbemerkten Augenblick mit einem Hund. Tage später litt ich an Krämpfen und mußte mit Verdacht auf Hirnhautentzündung ins Mohrunger Krankenhaus. Auch hier half mir Prof. Veitinger erfolgreich.
Diese unbeschwerten Kindheitsjahre gingen mit der erneuten Einberufung
meines Vaters zur Wehrmacht Anfang 1943 erst einmal zu Ende. Allerdings
wurde er ganz in der Nähe, in der Nachbarstadt Preußisch Holland
eingesetzt. Er war dort als Ausbilder tätig. Hier besuchten meine
Mutter und ich ihn oft an den Sonntagen, wenn er keinen ausdrücklichen
Ausgang hatte. In den überwiegend aus einfachen Baracken bestehenden
Kasernengelände gab´s dann für mich immer Kakao und Kuchen.
Auch nutzte mein Vater jede Freizeit, um zu uns nach Mohrungen zu kommen.
Manchmal legte er die 25 km sogar zu Fuß zurück.
Auch das Leben in Mohrungen hatte sich irgendwie verändert. Fast alle Männer des Bekanntenkreises waren nun irgendwo militärisch eingesetzt. So beschränkte sich das Leben auf das Treffen der Frauen mit ihren Kindern untereinander. Für mich war das zunächst nicht so tragisch, denn meine Spielkameraden, die Mädchen Dreschhoff, der Hartmut Langenbach und der Wolfhard Grabo waren ja nicht weit und Spielzeug hatten wir ja auch genug.
Im täglichen Leben merkte man den Krieg in Ostpreußen zu dieser Zeit jedoch nicht so unmittelbar. Ab und zu war zwar das Brummen größerer Militärkolonnen von der nahen Preußisch-Holländer-Chaussée her zu hören, manchmal war auch ein Flugzeug-Geschwader mit ihrem durchdringenden Motorengedröhne über Mohrungen zu hören und zu sehen. Eine echte Bedrohung war es aber wohl kaum. Es wurde aber bereits damals strengstens auf die abendliche Verdunklung geachtet. Sobald diese nicht perfekt eingehalten wurde, klingelte ein Luftschutzwart an der Tür, um darauf hinzuweisen.
Auch die Versorgung mit Lebensmitteln und alles was man auf Karten bekam, funktionierte zu dieser Zeit noch zufriedenstellend. Heizmaterial und vor allem Kohlen wurden aber schon damals knapp. Wenn in dieser Zeit mal am nahen Bahnhof ein paar Waggons angekommen waren und beim Umladen auf Pferdewagen Bruchstücke von Briketts und Kohlenstaub daneben fielen, waren sofort Kinder da, die diese aufsammelten und in Körben nach Hause schleppten.
Bedrohlich klangen für mich allerdings die Meldungen aus dem Volksempfänger, der bei uns hoch oben auf den Sekretär stand, an dem mein Vater sonst immer arbeitete. Pflicht war es für jeden mindestens einmal täglich die mit Fanfarenstößen beginnende Sendung „Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt“ zu hören. Hier hörte man dann von den siegreichen Schlachten im Osten, aber weniger von dem Bombenkrieg auf deutsche Großstädte im Westen.
Im Sommer 1943 kam dann unvermittelt die zweitälteste Schwester meiner
Mutter, Magdalene Soetje, mit ihren drei Söhnen zu uns nach Mohrungen.
Sie hatte bereits 1933 nach Hamburg geheiratet und war nun nach dem schweren
Bombenangriff auf die Hansestadt obdachlos, denn ihre Wohnung war vollständig
ausgebombt worden. Sie hatte mit ihren Söhnen in einem Gemeinschaftsbunker
überlebt und war dann – wohin sollte sie auch – zu ihrer
jüngsten Schwester nach Mohrungen gefahren, denn die hatte ja wohl
den meisten Platz. Einen Teil ihrer Möbel – wie sich später
heraus stellte – hatten Luftschutzhelfer aus dem ausgebrandten Wohnblock
gerettet. Die Möbel standen tagelang im Regen in Hamburg-Barmbeck
auf der Straße, konnten später dann aber doch irgendwo eingelagert
werden und nach dem Kriege erhielt sie sie sogar zurück.
Mit der Ruhe und dem geordneten Leben in unserer relativ großen Wohnung in der Veitstraße war es nun für meine Mutter und mich erstmal vorbei. Wir mußten zusammenrücken und das Leben anders organisieren. Das war nicht ganz einfach, mußte doch nun für sechs Menschen ein gewisser Freiraum erhalten bleiben.
Meine drei Vettern , alle älter als ich , benahmen sich mir gegenüber dann auch gleich entsprechend forsch. Als Großstadtkinder mit wenig Spielzeug aufgewachsen und gewohnt viel auf der Straße zu spielen, wurden nun meine Sachen erst einmal inspiziert und auseinander genommen. Das war ich natürlich nicht gewohnt, und das Geschrei darüber beschränkte sich nicht nur auf uns Kinder.
Meine Mutter setzte alle Hebel in Bewegung, um im Rathaus und bei der Kreisverwaltung eine Änderung der Situation herbei zu führen. Und das gelang sogar, als ob noch Frieden wäre: Meine Tante und meine Vettern wurden ganz offiziell nach Thüringen ins Vogtland evakuiert. Ende März 1944 erreichte uns ein Telegramm aus Preußisch Holland von meinem Vater, daß seine Einheit nun an die Front müsse, und daß der Transport über Mohrungen " und zwar noch am selben Tag " ginge.
Eilig zogen wir uns an, um sofort zum Bahnhof zu laufen. Auf dem hinteren Bahnsteig standen schon einige Leute, die wohl eine ähnliche Nachricht erhalten hatten. Endlich lief dann auch ein endlos langer Güterzug ein und in den offenen Türen und auf den Trittbrettern hingen die Soldaten wie Trauben. Lachend sprangen einige noch bevor der Zug endgültig hielt ab und begrüßten in bester Laune ihre Angehörigen. Natürlich hatten wir meinen Vater auch sofort in einem der vorderen Waggons gesehen und liefen eilig dort hin, um ihm in die Arme zu nehmen. Der Aufenthalt war nur kurz. Unvermittelt setzte sich der Zug dann in Bewegung. Schnell - ohne viele Abschiedsworte sprangen die Soldaten auf den anfahrenden Zug wieder auf. Mein Vater wurde von einigen Kameraden in den Waggon gezogen. Alles winkte und rief sich noch etwas zu. Und plötzlich erschallte wie auf Kommando aus allen Wagen gleichzeitig das Lied "Hoch auf dem gelben Wagen sitz, ich beim Schwager vorn." Ein Lied, das mir noch heute Schauer über den Rücken laufen läßt.
Die Nachricht kam am 6. Juni 1944, obwohl der Kampfeinsatz bereits am
10. April gewesen war. Aber solange dauerte die Feldpost damals vom fernen
Bessarabien bis nach Mohrungen. Der Ortsgruppenleiter der NSDAP-Mohrungen
schrieb an meine Mutter:
"Ich erhielt die traurige Mitteilung, daß Ihr Gatte von seinem letzten Einsatz nicht zurückgekehrt ist und daher als vermißt gemeldet wird. Ich spreche Ihnen zu dieser Mitteilung das aufrichtige Mitgefühl der Partei und des deutschen Volkes aus. Wir alle hoffen, daß der Verlust Ihres Gatten nicht ein endgültiger sein möge."
Auch die Stadtverwaltung schrieb:
"....daß Ihr Gatte im Osteinsatz vermißt worden ist.....; ich bedaure aufrichtig......; obwohl eine große Ungewißheit für Sie besteht, können Umstände vorliegen, daß Ihr Mann lebt und nach Beendigung des Krieges zurückkehren kann."
An diesen Satz hat sich meine Mutter viele Jahre geklammert und hat, obwohl
von allen Verwandten und Bekannten Beileidsbekundungen eingingen: „sei
stark und hoffe“, immer geglaubt, mein Vater sei ja „nur“
vermißt und er wird sich durchschlagen und zurückkehren. Diese
Hoffnung übertrug sich auch sehr stark auf mich.
Schon im Oktober 1944 begann meine Mutter sich an die Auskunftsstelle
der Wehrmacht zu wenden. Es folgte eine jahrelange Schreiberei, die sich
später mit dem Suchdienst des Roten Kreuzes fortsetzte und sich bis
1972 hinziehen sollte.
Nun hatte sich unser Leben grundlegend verändert. Meine Mutter und
ich waren in diesem Kriegsjahr viel allein. Die Einladungen in den Kollegenkreis
der Herderschule blieben aus, die bevorzugte Bedienung beim Fleischer
Fischer gab´s nicht mehr, und die Arbeit im Garten mußte allein
bewältigt werden.
Doch was den Garten betrifft, hatten wir im Herbst dann doch Hilfe. Auf
Fürsprache unseres Nachbarn Rosewicz, der bei der Stadtverwaltung
arbeitete, wurden uns zwei französische Kriegsgefangene geschickt,
die den Garten umgruben und die schwersten Arbeiten erledigten. Sie wurden
dann noch ein zweites Mal zu uns abkommandiert, um den Keller aufzuräumen:
Kohlen in den Verschlag zu schippen und Briketts aufzustapeln. Meine Mutter
bot ihnen in unserer Küche eine kräftige Suppe zur Mittagszeit
an, doch das wurde von der Parteileitung umgehend gerügt: Feinde
nimmt man nicht in die Wohnung !
Im Oktober 1944, als die Russen schon vor Tilsit standen und alle über die Greueltaten von Nemmersdorf im östlichen Grenzgebiet sprachen, kamen die ersten Flüchtlinge nach Mohrungen. Ausgerechnet meine Mutter hatte man ausersehen, eine Frau Kunze mit ihren drei Kindern, das jüngste noch im Babyalter, in unserer Wohnung aufzunehmen. Nun wurde das Schlafzimmer ins Eßzimmer umgestellt und der große Eßzimmertisch kam ans Fußende der Ehebetten. Hier durfte ich nun auch schlafen, denn mein kleines Zimmer wurde auch gebraucht. Mit Hilfe der NS-Frauenschaft wurden dann ein paar Möbel besorgt. Mein Kinderbett wurde für das Baby reaktiviert und unsere weiße Gartenbank diente – mit ein paar Decken belegt – als Sofa für die neuen Mitbewohner.
Auch die Küche mußte natürlich nun von zwei Familien benutzt werden, was den Ordnungssinn und das planvolle Handeln meiner Mutter natürlich zuwider lief. Doch ein gewisses Improvisationstalent hatte man sich mittlerweile angeeignet; es war ja schließlich Krieg !
Dann wurde Frau Kunze auch noch krank und mußte an der Galle operiert
werden. Zum Wirtschaften für ihre Kinder wurde daraufhin ein Pflichtjahrmädchen
geschickt, welches natürlich mit den drei Kindern völlig überfordert
war.
Ich hatte mit dem ältesten Sohn von Frau Kunze, der 7 Jahre alt war,
zwar einen neuen Spielkameraden, mit dem ich auch viel herum tollte, doch
irgendwie war die Stimmung überall bedrückt. Dies verstärkte
sich noch, als immer mehr Militär in Mohrungen sichtbar wurde. Bei
uns hinter dem Haus auf der schönen Bleichwiese wurden mehrere Meter
tiefe Gräben ausgehoben und das Erdreich in Lastwagen weggefahren,
um – angeblich – den Ostwall zu bauen.
Auch unsere Bekannten wurden immer unruhiger. Frau Langenbach, die ihr
zweites Kind erwartete, wollte nicht länger in Mohrungen bleiben.
Sie ging nach Belgard in Pommern, wo ihre Eltern lebten. Sie bot uns an,
wenn es in Ostpreußen „los ginge“ dort hinzukommen.
Auch überredete sie meine Mutter eine große Kiste mit Wertsachen
wie Bettwäsche, Tischtüchern, Kleidung und gutem Geschirr dort
hin zu schicken, was meine Mutter dann auch tat.
Auch Dreschhoffs verließen Mohrungen. Anneliese Dreschhoff mit ihren beiden Töchtern Ute und Karin gingen nach Kose, einem Rittergut in der Nähe von Stolp in Pommern, welches ein Herr Klatt leitete, der ihr Vetter war. Verabschieden tat sie sich ebenfalls mit den Worten, daß wir gegebenenfalls dort hinkommen könnten.
Meiner Mutter war das alles unheimlich, aber wo sollte sie wirklich hin,
wo wir doch keine Verwandten im „Reich“ hatten ?!
Nun machten sich auch meine Großeltern in Kreuzburg Sorgen und schrieben: "Wenn es brenzlich wird, komm mit dem Jungen zu uns nach Kreuzburg, wir gehen dann gemeinsam weg." Und wenig später: "Wenn das nicht klappen sollte, treffen wir uns alle in Bernburg an der Saale." Hier wohnte nämlich der älteste Bruder meines Großvaters.
Anfang Dezember 1944 hatten wir dann noch eine weitere Einquartierung bei uns. Man hatte uns drei Krankenschwestern geschickt, die, um das Krankenhaus für den Ernstfall als Lazarett nutzen zu können, nach Mohrungen zur Verstärkung beordert worden waren.
Mein kleines Zimmer, welches ja eigentlich nur eine Kammer war, wurde nun für die Schwestern hergerichtet. Es wurde ein Etagenbett besorgt und eine Liege hineingestellt Der Raum war so voll, daß man kaum noch treten konnte. Nun bewohnten wir unsere Dreieinhalb-Zimmerwohnung mit neun Personen. Aber die Krankenschwestern waren sehr rücksichtsvoll und brauchten ja quasi auch nur einen Schlafplatz nach dem langen Dienst im Krankenhaus.
Bedrückende Stille lag dann Weihnachten 1944 über der Stadt.
Alles war verdunkelt, die Straßen menschenleer, man zog sich in
seine vier Wände zurück.
Für mich waren es die ersten Weihnachten ohne den Vater. Meine Mutter und ich saßen vor dem kleinen Weihnachtsbaum " Kerzen hatte sie noch auftreiben können " und ich spielte für mich alleine mit den wieder aufgefrischten Spielsachen.
In der Kammer nebenan saßen die drei Krankenschwestern still auf
ihren Betten, eine einzige Kerze vor sich auf dem Fußboden.
Die Familie Kunze in unserem ehemaligen Schlafzimmer war schon um 8 Uhr vor lauter Einsamkeit ins Bett gegangen. Auch ging es Frau Kunze nach der Operation immer noch nicht gut.
Es war Sonntag, der 21. Januar 1945, gegen 7 Uhr abends, als im ganzen Haus gleichzeitig Sturm geklingelt wurde. Kurz darauf rief eine Männerstimme dröhnend durch das ganze Treppenhaus: "Räumungsbefehl !!"
Die Frontlinien hatten Ende 1944 noch an der Narew in Polen und im Osten
bei Goldap gelegen. Am 14. Januar 1945 setzte Frostwetter ein und es gelang
den Russen ab dem 19. Januar in einer Großoffensive über die
zahlreichen zugefrorenen Flüsse und Sümpfe ein ungeahnt schneller
Vormarsch. Am 20. Januar war bereits Neidenburg erreicht und am 21.1.
standen die Russen vor Osterode/Ostpreußen, nur 25 km von Mohrungen
entfernt..
Meine Mutter hatte den ganzen Sonntag über an einem Rucksack aus Leinenstoff genäht und war gerade zu Frau Kahrer in den 2. Stock gegangen, um einen Knopflochbohrer zu holen. "Lassen Sie sein, Frau Kahrer", sagte sie, "ich mache den Rucksack mit Sicherheitsnadeln zu." Eilig wurde er nun noch vollgepackt. Zwei Koffer, eingenäht in Luftschutzvorhänge, standen schon seit Tagen gepackt bereit. Auch für mich war ein kleiner Rucksack gepackt, sowie zwei Einkaufstaschen, die ich zu tragen hatte.
"Ich lege noch schnell eine frische Tischdecke auf", sagte meine Mutter völlig unsinnig. "Wir sollten noch einen Kalender und eine Uhr mitnehmen", sagte ich in der allgemeinen Aufregung.
Meine Mutter zog zwei Mäntel übereinander und ich selbst mußte
lange Strümpfe und zwei Skihosen, Pullover und einen langen Mantel
nebst dicker Wollmütze anziehen. Um den Hals bekam ich einen an einem
dicken Bindfaden hängenden Paketanhänger, der mit meinem Namen,
Geburtsdatum , den Namen der Eltern und der Adresse, Mohrungen, Veitstraße
3, versehen war. Dies war so propagiert worden und eine sinnreiche Idee,
denn die Gefahr, von den Eltern getrennt zu werden und durch Schock alles
zu vergessen, war bei Kindern besonders groß.
So traten wir mit unserem schweren Gepäck, gefolgt von Frau Kunze mit ihren drei Kindern und unterstützt von Herrn Rosewicz, dessen Familie auch schon vorher weggegangen war - und den drei Krankenschwestern, auf die tief verschneite Straße. Es war eisig kalt, mindestens minus 18 Grad.
Auch aus den Nachbarhäusern strömten nun die Menschen und standen
hilflos und unschlüssig herum.
In der Veitstraße waren zwischenzeitlich Militär-Lastwagen aufge-fahren. Aufgeregte Männer mit Armbinden gaben das Kommando und verwehrten jedem, der nicht überprüft war, das Aufsteigen.
"Nur für Frauen mit drei und mehr Kindern", lautete die Parole, "wir bringen sie zur Küste zu einem Schiff !"
Eilig, aber noch immer geschwächt durch ihre Operation, stieg Frau Kunze mit ihren Kindern auf eines der Fahrzeuge. Wir haben nie wieder von ihnen gehört...
Hier kamen wir nicht mit, das war klar ! "Und auf ein Schiff gehe ich unter keinen Umständen", sagte meine Mutter mutig. Also was tun ?
Ob wohl noch ein Zug fährt ? Kurz entschlossen ließ mich meine Mutter bei Herrn Rosewicz, dem ich sehr vertraute, stehen und lief zum Bahnhof. Hier war kein Schalter mehr besetzt, kein Bahnhofsvorsteher mehr zu sehen. Doch auf einem der hinteren Gleise stand ein Güterzug mit offenen Pritschenwagen, eher zum Transportieren von Militärfahrzeugen gedacht, aber mit einer dampfenden Lokomotive davor.
Eilig kehrte sie zurück, um mich und unser Gepäck zu holen.
Wir verabschiedeten uns von Herrn Rosewicz - der dienstverpflichtet war und bleiben mußte, und den drei Krankenschwestern.
Herr Rosewicz ist dann am Montag, dem 22. Januar, gegen Mittag, als der
Russe schon von Süden her in die Stadt eindrang, zu Fuß in
Richtung Preußisch Holland aufgebrochen. Er erzählte später,
daß die drei Krankenschwestern noch am Sonntag, als wir gerade abgefahren
waren, einige deutsche Soldaten in unsere Wohnung eingeladen und mit ihnen
und den von uns zurückgelassenen Weinvorräten eine zünftige
Feier bis zum frühen Morgen veranstaltet hätten. – Nicht
ahnend, was auf sie zukommen würde.
Wegen ständiger und nicht mehr zu ertragender Nachstellungen und Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten, psychisch und physisch am Ende, wählten sie mit 23 anderen Schwestern des Kreiskrankenhauses Mohrungen am 27. Januar den Freitod.
Sie wurden in einem Massengrab am Krankenhaus beigesetzt.
Zurück am Bahnhof, wimmelte es nun auch hier von Menschen. Es hatte
sich wohl herumgesprochen, daß noch ein Zug führe.
Wir kletterten auf einen der Pritschen-Waggons und meine Mutter baute
aus unseren Koffern, den Taschen und Rucksäcken eine kleine „Burg“,
in die wir uns eng aneinander kauerten, um uns wenigstens einigermaßen
vor der Kälte zu schützen. Bis Marienburg sei es ja nicht weit,
das würden wir schon überstehen, meinte sie.
Es dauerte aber noch Stunden bis die vielen Menschen sich dicht gedrängt ein Eckchen auf einem der Waggons ergattert hatten. Und es gab Streit, wer den Vorzug in den zwei mitgeführten geschlossenen Güterwagen bekommen sollte. Wieder Männer mit Armbinden bestimmten, daß hier nur Schwangere und Frauen mit Säuglingen einsteigen durften.
Endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Dichter Qualm und Ruß von der Lokomotive hüllten uns ein. Der viele Schnee zwischen den Schienen und die nicht frei gelegten Weichen machten ein zügiges Fortkommen aber unmöglich. Nach bereits ca. 10 km, in der Nähe von Maldeuten, blieben wir zum ersten Mal in einer Schneewehe stecken. Es dauerte endlos bis Freiwillige die Lok wieder frei geschaufelt hatten.
Diese Situation wiederholte sich die ganze Nacht über. Mal waren
die Weichen vereist, dann waren wegen der bereits verlassenen Bahnhöfe
die Signale nicht mehr zu stellen, oder die Lokomotive hatte keinen Dampf
mehr und der Heizer mußte Schnee nachschippen.
Immer bei solchen Halten auf freier Strecke gingen die Türen der
beiden geschlossenen Waggons auf, und es wurden Menschen heraus getragen.
Meistens waren es erfrorene Säuglinge oder Frauen, die gerade geboren
hatten. Aber auch einige ältere Menschen überlebten nicht. Sie
alle wurden in aller Eile im Schnee am Bahndamm verscharrt.
Meine Mutter sagte nur immer zu mir: "Junge, schlafe nicht ein, Du erfrierst mir noch." Immer, wenn ich kurz vor dem Einschafen war, mußte ich aufstehen und meine Füße bewegen. Trotzdem habe ich mir in dieser Nacht ein halbes Dutzend Zehen angefroren.
Die Kälte und die Hilflosigkeit veranlaßte auch einige Leute bei den vielen Halts neben dem Zug Feuer zu machen, um sich wenigstens für kurze Zeit etwas zu wärmen. Das ging soweit, daß einige anfingen die Seitenbretter der Waggons abzureißen, um sie als Brennmaterial zu nutzen. Sobald aber ein Feuer zu lodern begann, wurde sofort gerufen: "Feuer aus, wollt ihr die Flieger anlocken !?" Niemand wußte, wie weit der Russe schon vorgedrungen war, und ob wir nicht plötzlich unter Beschuß geraten würden.
Es waren mindestens 12 Stunden vergangen und es wurde langsam hell, als
der Zug am nächsten Morgen in dem von Mohrungen in westlicher Richtung
liegenden und nur 60 km entfernten Marienburg ankamen.
Marienburg war der Grenzbahnhof und einzige Bahnübergang über
Nogat und Weichsel von Ostpreußen in das Gebiet des ehemaligen Freistaates
Danzig und dann weiter über Dirschau in der Kaschubei ins übrige
Deutschland. Zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg muß man
für die Durchfahrt noch einen besonderen Ausweis haben, und die Abteile
wurden von außen abgeschlossen. Dies war natürlich durch die
Besetzung Polens längst vorbei.
Auf den Bahnsteigen in Marienburg wimmelte es nur so von Menschen. Es
war nirgends ein Durchkommen vor lauter Gepäck, Kinderwagen und sonstigem
Hab und Gut. Alles war aufgeregt und lief durcheinander. Alte Leute saßen
erschöpft auf ihren Bündeln und Kinder, mit einer Hand irgendwo
abstützend, schliefen im Stehen.
Plötzlich sahen wir in dem Gedränge Frau Kahrer. Sie schleppte zwei Koffer und in ihrem Rucksack saß ihr Hund, ein weißer Spitz, der oben ängstlich herausschaute. Aber sofort hatten wir sie wieder aus den Augen verloren. Auch von ihr haben wir nie wieder was gehört.
Niemand wußte nun wie es weiter gehen sollte. Auch hier gab es keine
oder nur eine unzureichende Organisation, was in dieser Situation wohl
auch kein Wunder war.
Irgendwelche Durchsagen und wohl auch die Kälte und Übernächtigung veranlaßten immer mehr Leute den Bahnsteig, auf dem wir angekommen waren, zu verlassen. Vielleicht hofften einige, im Wartesaal etwas Heißes zu trinken zu bekommen oder eine halbwegs verbindliche Auskunft.
So standen wir stundenlang auf dem Bahnhof herum.
Gegen Mittag lief unvermittelt ein Zug ein, der völlig überfüllt
war. Plötzlich war wieder großes Gedränge auf dem Bahnsteig.
Jeder versuchte sich noch irgendwie hinein zu quetschen. Meine Mutter
und ich versuchten es in einem der vorderen Wagen, aber es war unmöglich,
wir wurden mit unserem Gepäck immer wieder abgedrängt und drohten
uns aus den Augen zu verlieren.
Verzweifelt schaute meine Mutter mehr zufällig zur Lokomotive hinüber.
Dies sah wohl auch wieder eher zufällig der Lok-Führer. Ohne
viel Worte kletterte er von seinem Stand herunter, packte mich samt Gepäck
unter die Arme und hob mich zu seinem Heizer empor auf den Führerstand.
Dann warf er die Koffer hinauf, die sofort auf den Kohlen im Tender landeten
und half meiner Mutter beim Hochklettern.
Der Lok-Führer bot meiner Mutter seinen Klappsitz an und aus seiner Thermosflasche heißen Kaffee. Der Heizer machte die Feuerungs-Öffnung auf und hätte mich, der nun tatsächlich schon halb erfroren war, am liebsten "zum Auftauen" hineingesteckt.
Und es ging dann auch tatsächlich los !
Wir fuhren über die große Eisenbahnbrücke, die die Nogat
überspannte. Noch nie zuvor hatte ich einen so großen Fluß
und an seinem Ufer eine so mächtige Ritterburg gesehen.
Ostpreußen lag nun hinter uns, und ich habe später, als ich das erste Mal wieder in Ostpreußen war, ganz für mich alleine, diese Brücke "die Brücke ohne Wiederkehr" genannt.
Ob es Dirschau war oder ein anderer Ort in der Kaschubei, weiß ich nicht mehr, jedenfalls mußten nach nicht all zu langer Fahrt alle den Zug verlassen, da er leer wieder zurück gehen sollte.
Hier versorgte man uns im Bahnhofsgebäude mit heißen Getränken
und überließ uns unserem Schicksal.
Es war schon wieder Abend geworden und stockdunkel, als meine Mutter, von innerer Unruhe getrieben, zum wiederholten Male nach draußen ging und zufällig auf einem der hinteren Gleise einen Zug unter Dampf sah.
Hier sind wir aufs Geratewohl eingestiegen ohne zu wissen, wohin er fahren
würde. Von dieser Fahrt weiß ich nicht mehr viel. Vor lauter
Übermüdung, Hunger und schmerzenden Füßen wegen meiner
geschwollenen Zehen bin ich dann wohl eingeschlafen.
So kamen wir zufällig bis Stolp in Pommern.
In Stolp lief das Leben noch einigermaßen normal. Jedenfalls bekamen wir etwas zu essen und meine Mutter besann sich, daß Anneliese Dreschhoff ja in der Nähe bei Ihrem Vetter auf dem Gut Kose war.
Sie ging ganz fest von dem Gedanken aus, daß es ja auch bald wieder
zurück gehen würde, denn – so die offizielle politische
Meinung – wenn der Russe in Ostpreußen eindringen würde,
dann nur für kurze Zeit. Somit würden wir ja auch nur ein paar
Tage in Kose bleiben müssen.
Wir kauften ganz regulär Fahrkarten und fuhren mit einem Bummelzug
die 30 km bis zur Bahnstation Pottangow.
Der Bahnvorsteher in seinem kleinen Bahnhof, der nur aus einem Dienstraum und einem kleinen Warteraum bestand, war sehr überrascht, als dem Zug meine Mutter und ich als einzige Fahrgäste entstiegen. Etwas unwillig rief er von seinem Diensttelefon aus das Gut Kose an.
Wieder warteten wir Stunden in dem kleinen Warteraum und es war schon wieder dunkel geworden, als plötzlich eine Gestalt in dickem Pelzmantel, die Kapuze weit ins Gesicht gezogen und in schweren Filzstiefeln vor uns stand. Es war Anneliese Dreschhoff; und vor dem Bahnhof stand ein großer Pferdeschlitten mit Kutscher.
So erreichten wir, in dicke Decken gewickelt, das ca. 10 km von der Bahnstation
entfernte Kose.
Das Gutshaus in Kose war ein großes Herrenhaus mit riesiger Eingangshalle, von der die Wohnräume abgingen. In den ersten Stock führte eine breite Treppe und wiederum von einer umlaufenden Galerie gingen die Schlafräume ab. Obwohl es in meiner Vorstellung eine Unmenge Zimmer geben mußte, war das Haus doch bereits durch allerhand Verwandte von Herrn Klatt mehr als überbelegt.
Aber hier wurden wir erst einmal aufgenommen und konnten uns etwas erholen, wenn auch meine Mutter und ich in einem Bett schlafen mußten.
Herr Klatt hatte für sich und seine Familie und das ganze zu dem Gut gehörende Dorf bereits einen Treck vorbereitet. So standen auf dem Hof vor den ausgedehnten Stallgebäuden in Reih und Glied die mit Lebensmitteln, Betten, Hausrat und Pferdefutter und teilweise mit Planen überspannte - beladenen Ackerwagen. Jede Familie hatte ihren eigenen Wagen, die Pferde waren genau eingeteilt und alles bis ins keinste geplant. Für seine eigene Familie hatte er eigens einen Wohnwagen erstanden. Täglich wartete er auf den Treckbefehl der Kreisverwaltung, der aber nicht kam.
Nach fünf Tagen - die Sorgen von Herrn Klatt wurden immer größer, und die Unruhe in Kose wuchs durch die Ungewißheit - bat meine Mutter ihn, uns zur Bahnstation zurückzubringen. Es war klar, in dem Treck hätten wir nicht auch noch mitgenommen werden können. Herr Klatt schien erleichtert, nun nicht weiter auch noch für eine ihm unbekannte Frau und ihren Sohn die Verantwortung übernehmen zu müssen. In aller Herrgottsfrühe es war eher noch Nacht - stellte er uns wieder den Pferdeschlitten nebst Kutscher zur Verfügung, der uns wieder zur Bahnstation nach Pottangow brachte.
So fuhren wir wieder ganz regulär mit der Bahn in das 100 km westlicher
liegende Belgard in Pommern zu der anderen Freundin meiner Mutter, Lotte
Langenbach.
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Der Treckbefehl für Kose "oder besser die Treckgenehmigung" kam, aber sie kam zu spät.
Anneliese Dreschhoff schrieb im September 1945:
"Als wir durch Belgard fuhren habe ich besonders stark an Sie und Frau Langenbach gedacht. Bewundern tue ich Ihren Mut, der Sie s. Zt. noch weiter fahren ließ. Wir blieben in Kose zumal meine Eltern und meine Schwester am 10.2. auch noch hinzu kamen und wir meine Mutter und den tot kranken Vater nicht alleine lassen wollten. Als der Kessel schon geschlossen war, kam der Treckbefehl am 8.3.. Es war Wahnsinn. 3 Tage später hatten uns die Russen erreicht und den Treck zerschlagen und ausgeraubt. Ich stand mit den Kindern an der Hand auf der Straße. Aus dem Chausséegraben haben wir uns ein paar Lumpen gesammelt und sind zu Fuß weitergegangen. Am 16ten wurden wir dann nochmals ausgeraubt. Wir standen vor dem totalen Nichts. Mein Vater starb am 31.3., meine Schwester Ruth und mein Vetter aus Kose sind verschleppt. Der alte Herr Klatt, mein Onkel erschlagen; Gisela desgl. tot. Mein Mann blieb in der Festung Stettin, seitdem fehlt jede Spur."
Frau Langenbach hatte im Dezember ihren zweiten Sohn Lutz zur Welt gebracht und lebte nun mit ihrem anderen Sohn Hartmut , meinem Spielkameraden aus Mohrungen, in einem kleinen Bahnarbeiter-Häuschen bei ihren Eltern in Belgard.
Zunächst kamen wir hier unter. In dem kleinen Haus und mit dem Baby
war das aber bald nicht mehr erträglich. Meine Mutter und ich konnten
nach ein paar Tagen ein spärlich möbliertes Zimmer in einem
Haus auf der anderen Straßenseite bekommen, welches einer Majorsfrau
mit fünf Kindern gehörte.
Hier konnten wir fast normal leben.
Obwohl die Schaufenster in den Geschäften immer leerer wurden, gab
es auf Lebensmittelkarten das Notwendigste zu kaufen, und auf dem kleinen
Ofen in unserem Zimmer konnten wir das Wenige zubereiten.
Das Leben war in diesen Februartagen hier in Pommern schon fast wieder so normal, daß meine Mutter, die in einem sonst fast leeren Schaufenster einen Rotstift und einen blauen Stift liegen sah, diese sofort kaufte: "Wenn Papa aus dem Krieg kommt, braucht er die zum Korrigieren der Schülerhefte", erklärte sie mir.
Es war, als wollte sie sich selbst ein Geschenk zu ihrem 37. Geburtstag
am 24. Februar machen.
"Und in den nächsten Tagen gehen wir rüber zu Langenbachs und öffnen unsere von Mohrungen vorgeschickte Kiste, um zu sehen, ob alles heil angekommen ist", sagte sie voller Pläne für die nächste Zeit.
Doch dazu kam es nicht mehr.
Die Unruhe in Belgard war in dieser letzten Februarwoche überall
zu spüren. Man wußte, daß der Russe in Zentralpolen mittlerweile
weit vorgerückt war. Gerüchte gingen um, daß die Armeen
nun von Süden einen Vorstoß zur Ostsee machen wollten, um Hinterpommern
einzukesseln. In diesem Gebiet lag Belgard. Überall herrschte wieder
Aufbruchstimmung, aber einen geregelten Zugverkehr gab es nun auch hier
nicht mehr.
Wie nun hier wieder weg kommen ?
Aber wir hatten auch diesmal wieder Glück, bei all den Strapazen,
die noch folgen sollten.
Am 1. März flüsterte Lotte Langenbach unter dem Siegel der Verschwiegenheit meiner Mutter zu, daß ein Lazarettzug durch Belgard kommen sollte. Ihr Vater und andere bei der Bahn Beschäftigte wollten hier für sich und ihre Familien einige Wagen anhängen.
"Hier müssen wir mit, egal wie", sagte meine Mutter fest entschlossen, und wir packten noch am Abend unsere Koffer und Taschen.
Am nächsten Morgen, es war der 2. März, sahen wir, wie die Eltern
von Langenbachs einen Handwagen mit ihrem Gepäck beluden. Wir nahmen
sofort unsere Sachen und gingen auf die Straße. Ich hatte wieder
den Gepäckanhänger um den Hals mit unserer Mohrunger Adresse
und war wieder mit Rucksack und zwei Taschen bepackt.
Im Laufschritt zogen Langenbachs und die Nachbarn nun los. Wir konnten
kaum folgen. Ich stellte eine meiner Taschen auf den Handwagen und hielt
mich ein bißchen im Gehen fest. „Wirst Du mal loslassen“,
wurde ich angeschrien, „sollen wir dich auch noch ziehen!“
Sie waren dann auch schnell um die nächste Straßenecke verschwunden.
Meiner Mutter fielen ihre zwei Koffer vor Schwäche alle paar Meter
aus den Händen. In der Bahnhofstraße sah das ein einarmiger
Bahnbeamter. Er kam über die Straße und half wenigstens einen
der Koffer zu tragen.
Die Waggons, die angekoppelt werden sollten, waren schon voller Menschen als wir endlich ankamen. Es hatte sich wohl doch in der Stadt herumgesprochen, daß noch ein Zug gehen würde. Es waren sogenannte "preußische Personenwagen", bei denen jedes Abteil eine extra Tür zum Einsteigen hatte. Nur jeweils zwei Abteile waren durch einen schmalen Gang miteinander verbunden, damit man die Toilette erreichen konnte. In das Abteil, in dem Langenbachs schon saßen, zwängten wir uns nun auch noch hinein: Hier müssen wir mit !
Es herrschte eine drangvolle Enge. Die Gepäcknetze und der Gang waren voll gestellt mit Koffern, Kisten und Wäschekörben. Zwischen den Knien der sich gegenüberliegenden Bänke stand der Kinderwagen mit dem Baby von Frau Langenbach. Ihren Sohn Hartmut mußte sie auf den Schoß nehmen, damit meine Mutter sich überhaupt auf die Bank zwängen konnte. Auch ich mußte bei meiner Mutter auf dem Schoß sitzen.
Endlich kam der Lazarettzug und die Eisenbahner hatten Erfolg mit dem Ankoppeln.
Es ging in südwestliche Richtung. Nach ca. 30 km in Schivelbein mußte die Lokomotive Wasser aufnehmen. Es dauerte Stunden bis es weiterging. Kaum waren wir aus dem Bahnhof heraus, hielt der Zug schon wieder: "Tieffliegeralarm ! Alles unter den Zug !"
Waren es die Rote-Kreuz-Markierungen auf dem Dach des Lazarettzuges oder
hatten wir nur Glück ? Jedenfalls wurden wir nicht angegriffen.
Es war später Nachmittag und schon etwas dämmrig als uns kurz vor Stargard, ca. 100 km von Belgard entfernt - Geschützdonner begrüßte. Der Zug hielt und alles starrte in Richtung Stadt. Ich besinne mich noch genau an den Feuerschein, der vor uns in jeweils kurzen Abständen aufblitzte.
Allen war sofort klar, weder Richtung Süden nach Küstrin und
Frankfurt/Oder noch nach Westen über Stettin war ein Durchkommen.
Der Russe schnitt den Weg nach Westen ab und war uns schon ganz nahe.
Also mußte der Zug zurück und eine andere Strecke suchen !
– Am nächsten Morgen, nach 24 Stunden Fahrt, standen wir wieder
in Belgard auf dem verlassenen Bahnhof.
Die Lokomotive mußte sich wieder mit Wasser und Kohlen versorgen. Währenddessen gingen einige Männer in die menschenleere Stadt, um Eßsachen zu „besorgen“. Sie kamen tatsächlich auch mit einigen Broten und etwas Milch zurück. Die Verteilung klappte dann dank einiger energischer Leute auch erstaunlich gut. Es bekam jeder etwas ab.
Der Zug setzte sich wieder in Bewegung und mußte sich seinen Weg
selber suchen. Bahnhöfe und Stellanlagen waren nicht mehr besetzt.
Die Lok-Führer und Bahnleute mußten alles selber machen. Signale
und Weichen stellen; vor allem aber die richtigen Gleise finden.
Es ging nun nach Norden Richtung Kolberg an die Ostseeküste. Es gelang dann auch, trotz der vielen Hindernisse, Kolberg bis zum nächsten Tag zu passieren.
Dieser 3. März - unser zweiter Startversuch aus Belgard - ist deshalb so entscheidend, weil er einem besonderen militärischem Umstand zu verdanken ist. Der Russe stieß in diesen Tagen mit seiner 19. Russischen Armee von Süden auf Köslin zu, welches östlich von Belgard liegt. Die verbündete "1. Polnischen Armee", drang gleichzeitig über Schivelbein nach Norden vor und erreichte am 4. März die Stadtgrenze von Kolberg. Zwischen beiden Armeen war eine Lücke entstanden, in der Belgard und unser Schienenweg nach Kolberg lag.
Es ging nur langsam voran. Dauernd mußte der Zug anhalten. Mal hatte
er keinen Dampf mehr, weil der Zug für die Lokomotive viel zu schwer
war, mal wußte keiner, welche der Nebenstrecken Richtung Westen
wirklich zu einem Oderübergang führen würde. Und dann war
wieder Fliegeralarm und alles mußte unter den Zug.
Ich saß meiner Mutter nun schon den dritten Tag und die zweite Nacht ununterbrochen auf dem Schoß. Ab und zu verteilten Männer bei den vielen Halts etwas Brot und aus der kleinen Küche des Lazarettzuges etwas zu trinken. Viele hatten auch schon Durchfall. Die Toiletten waren verstopft und stanken. Fast alle Menschen im Zug kratzten sich unaufhörlich wegen ihrer Läuse. Andere wiederum waren im Begriff überzuschnappen. Mir gegenüber saß ein älterer Mann, der meistens vor sich hindämmerte. Immer wenn unsere Blicke sich trafen, drohte er mir mit dem Zeigefinger: "Du hast die weißen Mäuse losgelassen, sieh, sieh", und er zeigte aus dem Fenster, "wie sie laufen."
"Sieh nicht hin," sagte meine Mutter.
Ein einzelner Soldat tauchte am vierten Tag unserer Irrfahrt auf. Niemand
fragte woher er kam und wohin er wollte. Er ist mir deshalb in Erinnerung
geblieben, weil er eine Idee hatte. Wie alle Soldaten hatte er in seinem
Marschgepäck eine Zeltplane, mit der er notfalls im Freien übernachten,
oder mit einem Kameraden ein kleines Zelt bauen konnte.
Diese Zeltplane spannte er zwischen die sich gegenüber liegenden Gepäcknetze und schuf so eine Art Hängematte, in der Hartmut Langenbach und ich schlafen sollten. Dadurch wurden unsere Mütter, die schon am Ende ihrer Kräfte waren, von unserem ständigen Gewicht befreit.
Es war für mich etwas gruselig hier oben zwischen den Gepäckstücken
und jedesmal, wenn die Abteiltür aufgemacht wurde, hatte man das
Gefühl herauszufallen. Hartmut Langenbach hielt es auch nicht lange
aus. Er schrie nach seiner Mama. So hatte ich den Platz für mich
alleine und konnte nach Tagen mal wieder tief schlafen.
Es geschehen noch Wunder. Am 7. März 1945 erreichte unser Zug die Insel Wollin und stand gegen Mittag im Hafen von Swinemünde. Für die ca. 120 km von Belgard bis hierher hatten wir fünf Tage gebraucht. Zwei Tage später war der Russe auch hier.
Nach stundenlangem Warten wurde unser Zug auf eine Fähre geschoben und wir wurden über die Odermündung auf die Insel Usedom übergesetzt. Von meinem Ausguck sah ich die zerbombten Lagerschuppen im Hafen von Swinemünde, halb versenkte Schiffe, bei denen nur noch die Aufbauten aus dem Wasser ragten, oder deren Heck auf Grund lag, während der Bug hoch aus dem Wasser ragte.
Nun ging die Fahrt etwas schneller voran. In den Bahnhöfen in Mecklenburg
erwarteten uns Rot-Kreuz-Schwestern und BDM-Mädchen, die uns mit
heißen Suppen und etwas Eßbarem versorgten.
An irgendeinem kleineren Bahnhof stiegen Langenbachs aus. Sie wollten auf eigene Faust zu entfernten Verwandten nach Sachsen-Anhalt. Das Angebot an uns, doch mitzukommen, schlug meine Mutter aus. „Ich steige hier nicht eher aus, als bis ich rausgeschmissen werde,“ antwortete meine Mutter apathisch.
Es ging weiter nach Schleswig-Holstein. Hier wurden an einem mir unbekannten Bahnhof die verwundeten Soldaten aus den Lazarett-Waggons ausgeladen.
Es gab nun etwas mehr Platz im Zug und auch wir stiegen in einen dieser
Waggons um. Hier war es aber auch nicht viel besser. Es roch nach Blut
und Eiter. Unter den Sitzen lagen verschmierte und schmutzige Verbände.
Niemand hatte ernstlich Interesse diesen Zustand zu verbessern.
Die Fahrt ging weiter über Lauenburg, Lehrte und Hildesheim.
Am Abend des 9. März hieß es dann auf einem kleinen Bahnhof: "Flüchtlinge alle aussteigen !" Wir waren in Osterode am Harz.
Es war der Tag, aber das wußten wieder jetzt noch nicht - an dem mein Großvater Ernst Rudolf Krause - 73 Jahre alt - in Stolp von einem russischen Soldaten erschossen wurde, weil er sich nicht zur Zwangsarbeit nach Rußland verschleppen lassen wollte. Seine letzten Worte sollen - so meine Großmutter später gewesen sein: "So schieß in Gottes Namen." - Meine Großeltern waren von Kreuzburg über Pillau und die Halbinsel Hela bis nach Stolp gekommen und hier hängen geblieben.
Im Wartesaal des Osteroder Bahnhofs wurden wir mit heißen Getränken versorgt, und es hieß dann, angesichts der vor allem erschöpften Kinder: "Frauen mit Kindern aufs Land, wo ein Arzt ist."
So nahmen wir wieder unsere Sachen und stiegen gegenüber des Bahnhofs in die Kreisbahn, einer Schmalspurbahn, die die umliegenden Dörfer mit Osterode verband.
Wir landeten in dem Dorf Förste, einer Gemeinde mit 1500 Einwohnern, denn hier war weit und breit der einzige Arzt ansässig.
BDM-Mädchen mit Handwagen nahmen uns am Bahnhof in Empfang und brachten uns in den Saal des Gasthauses Küster. Hier gab es für uns nach über einer Woche die erste wirkliche warme Mahlzeit: eine Kartoffelsuppe ! „Nie vorher und nie nachher hat mir eine Kartoffelsuppe so gut geschmeckt wie an diesem Abend“, sagte meine Mutter später einmal.
Der Bürgermeister verteilte die Flüchtlinge dann auf die ansässigen Familien. Wir kamen zu der Familie des Schusters Behrens, der ein kleines Haus in mitten des Ortes mit Nebenerwerbslandwirtschaft bewohnte. Von der Eingangsdiele ging es links in die gute Stube und geradeaus in die große Wohnküche, neben der ein kleines Wohnzimmer lag. Weiter geradeaus kam man auf den kleinen Wirtschaftshof mit Stallungen für Ziegen, Schweine und Hühner und ganz hinten war das Plumps-Klo. Die Schusterwerkstatt lag im ersten Stock, und die beiden nicht heizbaren Schlafkammern waren nur durch die Werkstatt zu erreichen.
Man bot uns für die erste Nacht die bessere Kammer an. Zum ersten Mal seit über einer Woche konnten meine Mutter und ich uns wieder in ein schneeweiß bezogenes Bett legen.
Halb entschuldigend sagte meine Mutter zu Frau Behrens: "Machen Sie sich nicht soviel Umstände, es wird ja bald wieder zurück gehen ! |