Fortsetzung: hier Teil 3

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Die Massenerkrankungen und die Kältewelle ohne ausreichendes Brennmaterial habe ich in einem Brief geschildert:


" Ich bin doppelt froh, dass Mutter im Krankenhaus in Odense ist, weil wir hier sehr frieren müssen. Manchmal haben wir nicht mehr als + 6 Grad im Zimmer, trotz heizen, aber das ist zu wenig, das bißchen Torf.

Heute hatten wir bis Mittag + 2 Grad. Wir konnten erst am Nachmittag heizen. Außerdem herrscht bei uns im Lager seit der großen Kälte eine Grippe-Epidemie. Bei 1200 Leuten waren in den ersten Tagen 200 Kranke, wieviel es jetzt sind, weiß ich nicht, doch hört man überall, daß sich kaum jemand wohl fühlt. Es ist eine ganz schwere Grippe. Beldringe ist überfüllt.

Du siehst also, wie gut es ist, dass Mutti im Krankenhaus ist. Uns beiden geht es auch gut. Papa ist nun Renntier, weil es für den Duschraum keinen Torf gibt, doch dafür habe ich eine Beschäftigung bekommen. Sogar einen ziemlichen Vertrauensposten. Ich mache mit einer älteren Dame die Kaltverpflegung in der Abteilung I des Lagers. Ich löste ein Fräulein, das nach Deutschland fuhr, ab. Die war aber auch älter. Wie man gerade auf mich gekommen ist, weiß ich nicht, weil ich mich doch um gar nichts gekümmert habe, aber das freut mich. Wir geben Mittwoch und Sonnabend Verpflegung aus. Die beiden Tage hab‘ ich von morgens bis abends zu tun. Portionen machen, Ausgabe und am Abend Abrechnung mit dem Küchenchef".

Wir konnten nicht direkt nach Deutschland fahren. Es klappte nicht mit der Repatriierung; es gab immer wieder neue Vorschriften, die erfüllt werden mußten. Als das Lager Allesö aufgelöst worden war, mußten wir in das Lager Grove in Jütland. Dort lebten wir zwei Monate. An das Lager habe ich ganz schlechte Erinnerungen. Es war schwierig für uns, da integriert zu werden, denn das Lager hatte einen ganz anderen Standard. Wir haben uns da überhaupt nicht wohlgefühlt und sehr gelitten, alle.

Am 10. April kamen wir ins Grenzlager Kolding. Hier ging es nun wieder besser, weil wir ein Ziel vor und hatten: nämlich nach Deutschland zu kommen. Wir hatten von der schlechten Ernährungslage, die dort herrschte, gehört. Hier hatten wir ausreichend zu essen, haben uns Brot geröstet, aus Taschentüchern Säckchen genäht und diese eiserne Ration für die bevorstehende Reise gespart. Das war wohl verboten.

Mit unserer Habe mußten wir zur Gepäckkontrolle; wir wurden fotografiert, Fingerabdrücke wurden sogar gemacht. Wir sahen ein, das mußte sein. Wir bekamen auch Marschverpflegung für Deutschland mit, die eine bestimmte Zeit reichte. Wir freuten uns, - am nächsten Morgen sollten wir nach Deutschland den Zug besteigen, aber da kam die Nachricht durch den Lautsprecher, daß der Rücktransport verschoben wird. Wir haben 19 Tage in Kolding zubringen müssen, ohne überhaupt zu wissen, was los war. Immer wieder fragten wir uns: >Warum geht unser Zug nicht?< Wir waren praktisch in Dänemark als Flüchtlinge entlassen und auf dem Weg nach Deutschland gebracht, und nun geht es nicht weiter. Es gab auch verwirrende Gerüchte im Lager, die uns durcheinander brachten.

Unser Gepäck bestand aus Dingen, die wir noch besaßen und aus dem, was wir inzwischen genäht oder hergestellt hatten. Obwohl nicht viel, besaßen wir doch etwas. es waren lebensnotwendige Dinge: ein Eßbesteck, eine Tasse, ein paar Teller, - das was man zum Leben unbedingt brauchte.

Ich hatte auch eine kleine Erinnerung an Allesö mitgebracht, und zwar ein Stück Stacheldraht. Das war so, wenn ich von Beldringe nach Allesö ging, dann war der Weg durch das Tor ein ziemlicher Umweg, und Vater hat da mal gesagt: > Weißt du, Dora, daß da eigentlich in dem Zaun ein Loch ist? da gehen manche Leute durch<. Das war kein dichter Stacheldraht, und die Wachposten konnten nicht immer überall sein. An dieser Stelle war ein stück Stacheldraht nur eingehakt, und ich habe diesen Weg gelegentlich benutzt, um den Weg zu meinen Eltern abzukürzen und bei ihnen länger bleiben zu können. Einmal bin ich an dem Stacheldraht hängengeblieben, und dadurch habe ich eine Erinnerungsnarbe am Arm. Als wir aufbrachen, hing immer noch ein Stück Stacheldraht sa. Da habe ich meinen Vater gebeten, ob er mir nicht etwas davon abschneiden kann. Das habe ich mitgenommen im Gepäck von Allesö, und es hängt dort drüben an der Wand.

Am 29. April wurde uns in Kolding gesagt, daß wir jetzt nicht nach Deutschland ausreisen könnten. Wir mußten nun ins Lager Oxböl zurück. Wir sollten als Transport zusammen bleiben. Unsere Heimreise verschob sich! - Ohne große begründung wurden wir dann am 1. Mai nach Oxböl transportiert. da wurden wir zuerst in die freien Baracken Y eingewiesen. Diese waren nicht mehr zur Unterbringung tauglich, aber unser transport, über 100 Menschen, sollten dort geschlossen untergebracht werden.

Es war ein sehr großes gut organisiertes Lager. Es lebten mehr als 30.000 Menschen hinter Stacheldraht, aber es war genug Platz für die Menschen im Vergleich zu Grove. Zur Lagerorganisation gehörten Barackenälteste, und ich wurde auch zur Barackenältesten gewählt von den Menschen in meinem Transport. Ich bekam die Aufgabe, die Kaltverpflegung auszuwiegen und zu verteilen, außerdem Kino- und Theaterkarten zu vergeben, alles nach einem einsichtigen demokratischen System.

An den Transport nach Deutschland erinnere ich mich sehr gut. Es war unser zweiter Start, und wir wußten nun, wie es abläuft, und haben etwas gelassener die Vorbereitungen zu dieser zweiten Heimreise erledigt, die eine wirkliche Heimreise wurde. Diesmal ging es glatt. Wir sind gut von Oxböl weggekommen. Es ging weiter nach Kolding, und alles klappte reibungslos. Endlich saßen wir im Zug nach Deutschland!

Am 9. Juli haben wir die Grenze überschritten, und nach zwei Tagen sind wir in Lindau am Bodensee angekommen. Die ganze Gruppe war in die französische Besatzungszone eingewiesen worden, Und wir haben Deutschland von Flensburg im Norden nach Süden im Zug durchfahren.
Die Fahrt durch das zerstörte Deutschland war für uns interessant und aufregend. - Aber wie sollte das Leben nun weitergehen?

Baden-Württemberg

Heute am 21. Juli wollen wir weiterarbeiten. Ich bin wieder da, und es ist Sonntag. Wir sind da stehengeblieben, wo die Familie aus Dänemark nach Deutschland zurückgekehrt war.

Wir waren etwa eine Woche im Quarantänelager am Bodensee, und da wurden wir registriert und fotografiert und bekamen neue Ausweise.
Uns wurden die Namen der Kreise der französischen Besatzungszone vorgelegt. Für uns war das eine große Liste, und wir sollten wählen, in welchen Kreis wir umsiedeln möchten. Wir kannten uns überhaupt nicht im Südwesten aus, und standen nun vor dieser Liste und haben überlegt und überlegt. Das war keine leichte Entscheidung, die wir da zu treffen hatten. Mein Vater sah den Ort Sigmaringen, und sagte: >Vielleicht ist hier im hohenzollerischen Land etwas Preußisches übergeblieben nach dem Krieg,. Wollen wir nicht nach Sigmaringen gehen? Laßt uns doch dorthin ziehen. Ich glaube, da haben wir eine Chance, noch mal einen neuen Anfang zu wagen>. - Mein Vater hatte in seinen jungen Jahren ein Stück von Deutschland gesehen, und er hat wohl Vorstellungen von der Stadt gehabt.
Wir sind jedoch nicht nach Sigmaringen gekommen, und das war unsere erste Enttäuschung. Wir fuhren mit einem Bus. Die Gruppe wurde immer kleiner, und zuletzt waren wir noch 10 oder 15 Leute. Wir wurden nach Feldhausen bei Gammertingen eingewiesen. Wir kamen aber in den kleinen, ganz abgelegenen Ort Feldhausen auf der >rauhen Alb< mit ca. 350 Einwohnern und wären doch so gerne in eine kleine Stadt gezogen!

Der Bürgermeister hat uns begrüßt und uns in die Häuser eingewiesen. Meine Schwester kam zu einem größeren Bauern, und sie hat später mit ihren beiden Söhnen und ihrem Mann in einem kleinen Häuschen gewohnt. Wir wurden zu einer alleinstehenden Frau in ein ganz altes Haus eingewiesen und haben da im Dachgeschoß zwei Räume von ihr bekommen. Sie war eine sehr gläubige Frau, eine echte Christin, und sie hatte sich damit einverstanden erklärt, Flüchtlinge aufzunehmen. Bei Flüchtlingen dachte man früher immer an Frauen mit Kindern. Darauf hatte sie sich eingestellt.

Mein Vater war der einzige Mann in dieser Gruppe, die nach Feldhausen kam, und sie war hell entsetzt, daß sie als älteres Fräulein einen fremden Mann in ihrem Haus aufnehmen mußte! Sie ist gleich zum Bürgermeister gegangen und hat gesagt: >Warum können nicht die großen Bauern, wo auch Männer im Haus sind, einen Mann aufnehmen? Warum muß ich das?< Aber der Bürgermeister hat gesagt: >So ist das, Mechthild! Du mußt dich damit abfinden!< Und die Mechthild hat sich abgefunden!

Wir waren nun in diesem - so schien es uns - verlassenen, kleinen, armen Dorf - bei Menschen, die ein breites Schwäbisch sprachen, das wir kaum verstanden, und die nicht viel mehr als wir hatten. Auf diesem kargen Boden lebten die Menschen einfacher, wie wir es von Ostpreußen her gewohnt waren. Unsere Heimatstadt war ganz anders strukturiert als dieses schwäbische Dorf.
Mechthild war ein älteres Fräulein und hatte noch einige Äcker von ihren Eltern geerbt. Es stellte sich bald heraus, daß sie mit uns - mit der Flüchtlingsfamilie Stephani - ganz zufrieden war, denn nach ganz kurzer Zeit hat sie von uns als >ihren Leuten< gesprochen. Sie hat mit uns viel geteilt, und zwischen ihr und meinen Eltern hat sich ein echtes Freundschaftsverhältnis entwickelt. Nach dem Tod meiner Eltern sind auch wir Geschwister mit der Mechthild sehr eng verbunden gewese - bis zu ihrem Tod.

Ich habe gleich am ersten Tag gesagt: >Ich kann nicht hier bleiben! - Irgendwo mußte es für mich ja weitergehen, einen neuen Anfang geben!
Ich hatte das Glück, daß ich in einem Heim für elternlose Flüchtlingskindern als Kinderbetreuerin angestellt wurde. Das Heim war in Isny im Allgäu, und noch im Lager Lindau habe ich erfahren, daß die Leiterin die Schwester von Gertrud war, die ich kannte. Von Lindau aus habe ich mit ihr telefoniert, und sie hat mich gefragt, ob ich schon Arbeit hätte, und weiter, ob ich Lust hätte, bei ihr zu arbeiten; sie habe sehr wenig Personal und möchte mir gerne eine Kindergruppe übertragen. Wir kannten uns aus Dänemark, und ich habe freudig zugesagt. - Nachdem ich meine Eltern nach Feldhausen gebracht hatte, habe ich dann meine wenigen Sachen eingepackt, bin nach Isny gefahren und habe da angefangen zu arbeiten.

Doch zurück in den Sommer 1947! Wie sollte es nun mit meinen alten Eltern weitergehen? Man muß sich vorstellen, daß wir, die wir aus dem Osten kamen, auf diesen neuen Anfang nicht vorbereitet waren. Wir hatten überhaupt keine Ahnung, wie es in Deutschland aussah. In Dänemark hatten wir immer noch gehofft, wir könnten nach Ostpreußen zurück. Wir haben von dem heimatlichen Land geträumt und haben uns gewünscht, dass das Leben da, wo es aufgehört hatte, auch weitergehen müßte. wir sahen nun ein, daß es unser Zuhause nicht mehr gab. Unser Heimatland Ostpreußen war polnisch besetztes Gebiet, in das wir nicht zurückkonnten. Wir haben begreifen müssen, daß wir heimatlos geworden waren. Nun mußten wir uns neu orientieren, weil uns die wichtigen Jahre vom Frühjahr 1945 bis Sommer 1947 in Deutschland fehlten. Ich war immer begierig, alles über diese Zeit zu erfahren.

Mein Vater hat trotz vieler Bemühungen keine Arbeit mehr bekommen, auch nicht bei den Bauern. Für ihn, der immer für seine große Familie gesorgt hatte, war dieser soziale Abstieg und die Entwurzelung schwer zu ertragen. Übrigens ging er auf die 70 zu und war sehr erschöpft.

Meine Schwester Charlotte aus Schleswig-Holstein ist als erste nach Feldhausen übergesiedelt und hat sich als Hausschneiderin betätigt, wofür sie Lebensmittel erhielt. Später hat sie eine Ausbildung als Sozialarbeiter in Stuttgart begonnen.
Die Brüder waren aus der Gefangenschaft entlassen, erst der Rudi 1948 aus der englischen Gefangenschaft. Er kam auch nach Feldhausen. Das war die Startstelle für alle. So sind wir alle im schwäbischen Raum geblieben. Mein Schwager kam aus französischer Gefangenschaft, und als letzter 1949 mein jüngster Bruder aus Sibirien. Alle haben eine Arbeit angenommen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, und haben später ihren beruflichen Weg gefunden.

Wir haben sehr viel gearbeitet, um uns eine neue Lebensgrundlage zu schaffen. Das war das Wichtigste. Wenn wir Zeit hatten zu überlegen und Pläne zu machen, muß ich sagen, daß ich oft ratlos und hilflos war - erschrocken und mutlos. Fast alles stimmte nicht mehr. Wir mußten unser Lebensgefühl ganz neu strukturieren. Heute frage ich mich, ob es allen Entwurzelten so geht, daß sie erst so richtig unten sein müssen, um es zu schaffen, wieder neue Lebensziele anzugehen? wenn ich jetzt darüber nachdenke, ist es eigenartig, daß ich diese Überlegungen nie mit meinen Eltern besprochen habe, aber ich bin davon überzeugt, daß sie genau wie ich dachten.

Als mein jüngster Bruder aus der russischen Gefangenschaft kam, waren wir Geschwister zu Besuch bei den Eltern in Feldhausen. Bei dieser Gelegenheit wurde das nebenstehende Foto gemacht (S. 85), ein Stückchen vom Ortsrand weg. Es war ein schöner Tag, weil wir alle zusammen waren, aber auch ein Tag der schmerzlichen erinnerungen.
Die Eltern blieben eineige Jahre in Feldhausen und wohnten in diesen zwei Zimmern bei der Mechthild. Dann sind sie zu meinem Bruder, der inzwischen geheiratet hatte, übergesiedelt. Als ich später mit meiner Schwester in Stuttgart wohnte, Haben wir meinen Eltern eine Wohnung beschaffen können, und wir haben sie nach Stuttgart geholt. Mein Vater ist mit 82 Jahren 1964 gestorben, meine Mutter mit 85 Jahren 1975.

Ich selber war bis 1951 als Kinderbetreuerin in Isny tätig. Eine Ausbildung hatte ich schon geplant, aber das ging nicht so schnell, wie ich mir das vorgestellt hatte. Vor allem war ich ja mittellos, und ich mußte mir erst etwas Geld für die Ausbildung verdienen. es ergab sich dann, das ich eine Stelle als Sprechstundenhilfe bei einem Arzt in Radolfzell am Bodensee bekam. In dieser Praxis habe ich ein knappes Jahr gearbeitet.

Im März 1953 bin ich nach Stuttgart umgezogen und begann dort eine dreijährige Ausbildung als Sozialarbeiterin. Nach Abschluß dieser Ausbildung wurde ich von der Stadt Stuttgart angestellt. Zu Beginn des Jahres 1960 ließ ich mich vom Jugendamt zum Gesundheitsamt versetzen und wurde dort 1968 leitende Sozialarbeiterin. Diese Funktion habe ich bis zum Eintritt in den krankheitsbedingten vorzeitigen Ruhestand 1981 inne.
Ich hatte inzwischen geheiratet und wohne mit meinem Mann seit über 10 Jahren in Wolfschlugen, 20 km südlich von Stuttgart.

Sehr großes Glück habe ich gehabt, daß ich damals aus Dänemark hier in den Südwesten entlassen wurde, und daß ich hier ein neues Zuhause finden konnte. Ich finde die Landschaft hier wunderschön, und ich bin froh, daß das Schicksal mich hierher verschlagen hat. Dieses Stück Deutschland ist mir zur zweiten Heimat geworden, aber im Grunde meines Wesens bin ich die Ostpreußin geblieben,
Wiedersehen mit Ostpreußen und Dänemark

Dies ist der vierte Nachmittag mit Frau Otto, und wir haben es uns heute am 22. Juli vorgenommen, den letzten Abschnitt ihrer Lebensgeschichte mit dem Tonband aufzunehmen.

Ich habe je zwei Reisen nach Liebstadt und nach Fünen unternommen:
Vom 1. bis 13. August 1976 war ich das erste Mal wieder in Ostpreußen, zusammen mit meinem Mann und zwei Geschwistern, und nach 31 Jahren habe ich meine kleine zerstörte Heimatstadt wieder gesehen. Sie hieß aber nicht mehr Liebstadt, sondern Milakowo.

Ich war zum Glück darauf vorbereitet, daß es das Liebstadt nicht mehr gibt, das ich immer noch geliebt und in Erinnerung bewahrt habe. Ich wußte, daß der Stadtkern mit dem Marktplatz, dem Rathaus und mit der Straße, in der unser Haus stand, alles zerstört war. Trotzdem konnte ich es kaum fassen, daß alles, was meine Kindheit ausgemacht hat, nicht mehr war. Bis heute ist nicht sehr viel um den Marktplatz herum aufgebaut worden.

Es lebten nur noch zwei deutsche Frauen dort mit ihren polnischen Männern, sonst nur noch Polen, ebenso Flüchtlinge wie wir, denn sie waren aus Ostpolen umgesiedelt worden, als die Russen ihr Land besetzten.
1985 bei meiner zweiten Reise nach Liebstadt war ich mit Schulfreunden dort. Für uns sind die Reisen in die alte Heimat wichtig, weil uns die Schönheit der Landschaft versöhnt und die Narben des Krieges in den zerstörten Städten übersehen läßt.
Wir Liebstädter trafen uns seit 1970, zunächst in Hamburg, später alle zwei Jahre in Kassel. 1990 fand unser 18. Liebstadt-Treffen statt. Sie sind aus Privatinitiative entstanden und waren für uns wichtige Begegnungen mit alten Freunden aus der Jugendzeit.
Ich habe mir in Liebstadt und auch danach Gedanken gemacht: Wo kannst du noch ein ganz kleines Stückchen Heimat finden? Wo findest du Altvertrautes? - Ich habe nichts gefunden, im Umkreis unseres Hauses ist alles zerstört. Die Häuser von damals gibt es nicht mehr.

Tröstlich ist für mich gewesen, daß ich auf den Kirchturm steigen und von dort - fast wie in den Kindertagen - auf die heimatliche Landschaft blicken konnte. Mein Blickfeld ging über die Narben hinweg, die der Krieg meiner Heimatstadt schlug - bis auf die zerstörten Glocken im Turm. Dieser Kirchturm ist fast der einzige Raum in meiner Geburtsstadt, an dem ich Altvertrautes gefunden habe, - der mir echte heimatliche Atmosphäre vermittelt hat.

Die Fahrten durch unsere ostpreußische Landschaft haben mich glücklich gemacht und haben mich mit einer selten so erlebten Daseinsfreude erfüllt. Das ist kaum zu erklären.
47 Jahre sind vergangen, seitdem ich mit meiner Familie aus Liebstadt fliehen mußte. Das ist eine sehr lange Zeit - mehr als zweimal das Leben, das ich in Liebstadt gelebt habe. Ich könnte heute nicht in dieser zerstörten Stadt leben. Aber immer wieder dort hinfahren und in die Landschaft eintauchen, die mir soviel gibt, das möchte ich machen, sobald es wieder möglich ist. Dies ist für mich sehr bedeutsam.

In Odense und Allesö war ich auch zweimal. Meine erste Reise zusammen mit meinem Mann machte ich eine Woche im September 1988, die zweite Reise vier Tage im August 1990. Beide Reisen waren wunderschön. In Grunde habe ich es mir lange gewünscht, Dänemark wiederzusehen, aber es mußten noch Barrieren für mich abgebaut werden. Ich hatte viele Vorbehalte und viele Fragen, aber Dänische Briefpartner halfen mir, die erste Reise zu unternehmen, und danach war es nicht mehr schwierig.

Herr Havrehed, für den ich 1981 meine ersten Aufzeichnungen über meine Flucht aus Ostpreußen schrieb, hat mich eingeladen, nach Dänemark zu kommen, aber ich konnte mich nicht aufraffen. So hat Herr Jacobsen aus Allesö mich 1988 zur ersten Reise ermuntert.

In Odense war er mir behilflich, die alten Spuren aufzunehmen. Im Hotel >Windsor< war ich im Dachstock des Hotels, wo das Pflegepersonal seinerseits gewohnt hat. Ich war auch in der Korslökke Skole. Doch bei der Albanigade hatte ich ganz erhebliche Schwierigkeiten, sie wiederzuerkennen. Es sind ja über 45 Jahre vergangen.

Das Wiedersehen mit Allesö war ganz besonders erfreulich für mich. der Ort hat sich in meinen Augen sehr positiv entwickelt. Ich habe das Dorf nur als Flüchtlingslager gekannt. Diese hübschen Häuser, die gepflegten Anwesen und Gärten und vor allem die freundlichen und mir nur entgegenkommenden Menschen, denen ich dort begegnet bin. Das alles hätte ich so nicht erwartet. Es war eine schöne erinnerungsreiche Zeit - diese Tage und besonders die Stunden, die ich in Allesö verbracht habe.
Das Haus in dem wir gewohnt haben, habe ich gefunden. Es sieht noch von außen wie damals aus. Die Besitzer waren da, und sie haben mir ihr Haus geöffnet. Die Räume waren völlig verändert, aber wir konnten mit den Menschen, die da leben, reden, und das war gut.

Bei einem Rundgang durch Allesö haben wir vieles angeschaut. Wir waren auch im Hof, in dem Vater die Duscheinrichtung für das Lager versorgt hat. Auf dem Weg habe ich Holunderbüsche gesehen, und dann ganz spontan versucht, wieder Strohsterne mit Hollundermark zu machen!

Ich habe viel von dem Land sehen dürfen, denn während unsere Internierungszeit war das unmöglich. Dieses Wiedersehen, mit erlebnisreichen Sommertagen verbunden, werde ich so schnell oder gar nicht vergessen!

Seit ich mich mit Dänemark mehr auseinandergesetzt habe, empfinde ich zunehmend ein großes Gefühl der Dankbarkeit dem Land und seinen Menschen gegenüber, weil es mir in den schwierigsten Zeiten meines Lebens Schutz und Versorgung gegeben hat. Ich habe das Bedürfnis, diesen Dank auf eine Art auszusprechen, dem Land und den Menschen zum Ausdruck zu bringen. Nur weiß ich noch nicht wie......

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